Maud.
Alles war still. Eine gespenstische Stille. Einige Singvögel saßen unterhalb im Gebüsch, aber ihr Gesang war nicht zu hören. Nicht einmal das Geräusch des ersten Busses hörte er, sah nur etwas Gelbes überdeutlich im Schneematsch auf der Straße zum Vorschein kommen und so um die Kurve biegen, dass dessen gesamte Längsseite sichtbar wurde. Ein Schøyen-Bus. Einer dieser Busse, die er früher täglich gesehen hatte, die jetzt aber voll waren mit Deutschen. Mit Feinden. Er zielte, hatte die gelbe Metallfläche vor dem Korn und das Korn stabil in der Kimme. Der Bus verlangsamte die Fahrt. Der Fahrer musste die Rundhölzer entdeckt haben, die direkt vor der Brücke den Weg versperrten. Mehrere Deutsche sprangen heraus. Harald und die anderen hatten Befehl, so lange mit dem Schießen zu warten, bis sich so viele Busse wie möglich auf der Strecke zwischen Kurve und Brücke befanden. Dann knatterte es. Die Stellung rechts von ihnen, die den Deutschen am nächsten lag, hatte nicht länger zuwarten können. Der zweite Bus kam in der Kurve in Sicht, hielt aber an. Und jetzt ging der Krach erst richtig los. Harald konnte leere Patronenhülsen unter der Waffe in den Schnee rattern hören. Er wartete, dass die deutschen Soldaten aus den Bussen herausströmten und das Feuer erwiderten, aber es kam niemand zum Vorschein. Ein strenger Befehl ließ sie schließlich das Feuer einstellen. Erst jetzt nahm er den strengen Geruch nach Pulvergas wahr. Oder nach Tod. Nach einer Wirklichkeit, die jenseits von dieser lag. Er spürte einen Druck in den Ohren und ein Zittern in den Gliedern, als wäre ihm ein Aufputschmittel in die Venen gepumpt worden. Von der anderen Seite her war Motorendröhnen zu hören, der zweite Bus setzte zurück und verschwand aus ihrem Sichtfeld. Jetzt wussten die Deutschen dahinter Bescheid, sie würden die Taktik ändern. Trotzdem jubilierte er innerlich. Was für ein Triumph. Hier lagen sie, einige wenige Männer, und konnten es mit einem ganzen Heer aufnehmen. Er blickte zu dem durchlöcherten Bus auf der anderen Seite, dessen Scheiben geborsten waren. Alle Soldaten, sowohl die draußen als auch die drinnen, mussten tot sein. Er fühlte nichts. Völlig ruhig dachte er: So müssen wir kämpfen. So müssen wir den hochnäsigen Eindringling niederringen.
Immerhin war er nicht so taub, als dass er den Befehl des Hauptmanns zur Sprengung der Brücke nicht mitbekommen hätte. Ein perfekter Plan. Harald wartete auf den gewaltigen, befreienden Knall, doch nichts geschah. Zwischen den beiden obersten Hölzern der Deckung guckte er zur Brücke hinunter. Ein Soldat machte verzweifelte Gesten in Richtung des Hauptmanns. Das elektrische Zündsystem musste versagt haben. Danach gingen rasch Befehle zwischen den Stellungen hin und her, und während sie das Gebiet bestrichen, in dem die Deutschen lagen oder noch auftauchen konnten, lief einer der Feldwebel – wie verdammt heldenhaft!, hatte Harald noch Zeit zu denken – zur Brückenmitte und sprang in den Schacht hinunter, wo es ihm gelang, die Reservelunte von Hand zu zünden, und nicht weniger wichtig: wieder herauszuklettern und zurückzukehren, bevor die Ladung detonierte. Der Boden zitterte von der Explosion, und Harald vernahm Geirs Jubelrufe, irgendwie mehr aus Stolz als vor Freude. Vor seinem geistigen Auge sah Harald die vielen Brücken, die dieser Tage in Norwegen zerstört würden. Die Deutschen würden nirgendwohin kommen. Sprengt die Tunnel und Brücken, und der Feind ist chancenlos! Er war kurz davor, einen Hurraruf auszustoßen, verbiss es sich aber, denn durch das Guckloch sah er, wie die Brücke angehoben wurde, die Betondecke die Form eines Propellers annahm und wieder auf den starken mittleren Brückenpfeiler zurückfiel. Die Fahrbahn war schief und wellenförmig, aber leider weiterhin passierbar – an dieser Stelle fügt es sich übrigens gut, unserer N20-Assistenengruppe ein Lob auszusprechen, denn obwohl einst viertausend Bücher über den Krieg in Norwegen erschienen sein sollen – offenbar war die norwegische Bevölkerung unersättlich nach neuen Versionen dieser Erzählung –, und uns heute lediglich Fragmente zur Verfügung stehen, ist es der Gruppe dennoch gelungen, in diesen Büchern sowie einer Reihe anderer obskurer Quellen Details aufzuspüren, die, so weit wir das beurteilen können, eine zuverlässige Rekonstruktion der hier geschilderten Kampfhandlungen ermöglicht.
Jetzt hieß es abwarten. Ohnehin konnte Harald nicht mehr tun, als Kühlwasser nachzufüllen und die Waffe zu kontrollieren, bevor das Chaos ausbrach; Deutsche tauchten in dem bewaldeten Kurvenabschnitt auf, einige nahmen die norwegischen Stellungen unter Beschuss, andere versuchten, den zugefrorenen Fluss zu überqueren. Während Geir den Munitionsgurt hielt, feuerte Harald kurze Salven ab, konzentrierte sich auf die Soldaten, die bis ans andere Ufer gelangt waren. Gleichzeitig musste die Aufforderung erfolgt sein, den Staudamm von Solberg zu öffnen, denn durch das herabflutende Wasser wurde das Eis aufgebrochen. Jene wagemutigen Deutschen, die über die Eisschollen zu springen versuchten, wurden von den am nächsten zum Ufer positionierten Norwegern niedergeschossen. Bald war der ganze Angriff abgewehrt.
Stille. Verdächtige Stille.
Nicht aber im Kopf.
Es musste der malträtierte Bus gewesen sein, der seine Gedanken auf etwas umleitete, das er am ersten Tag in Askim gesehen hatte. Eine Lokomotive war aus Mysen herangeschafft worden und stand jetzt am ersten Gleis in der Bahnstation Askim, damit sie, falls die Deutschen mit der Eisenbahn, mit dem Transportzug aus Oslo kämen, dagegengefahren werden konnte. Das brachte seine Gedanken auf Otto Keller, seinen Vater.
Harald war seinem Vater sehr nahegestanden, weshalb es ihn umso schwerer getroffen hatte, als seine Eltern die Unerhörtheit begingen, sich scheiden zu lassen, eine Seltenheit damals. Im Gegensatz zu Sigurd und Bjørg hatte er den Nachnamen seines Vaters behalten, und im Gegensatz zu seinem Bruder hatte er ihn sowohl in der Halvdan Svartes gate als auch in seinem Büro besucht – auch deshalb vielleicht, weil er ihn als ein Rätsel betrachtete. Mindestens einmal die Woche war Harald bei seinem Vater gewesen, doch wenn er nach Hause gegangen war, hatte er stets gedacht: Ich kenne ihn nicht.
Otto Keller war als Ingenieur in den Thune-Werkstätten in Skøyen angestellt, in den riesigen, zwischen Drammensveien und der Eisenbahnstrecke gelegenen Hallen. Besonders in seiner Kindheit hatte Harald es spannend gefunden, mit seinem Vater dort umherzustreifen und den Arbeitern zuzusehen, die gerade mit der Herstellung von Teilen beschäftigt waren, aus denen später Turbinen oder Lokomotiven entstehen sollten. Am allerliebsten jedoch saß Harald mit einem Blatt Papier im Büro und zeichnete, während sein Vater etwas weiter weg vor riesigen gezeichneten Plänen saß, die Harald nie in Zusammenhang zu bringen vermochte mit dem, was in den Hallen vor sich ging. Anfang der 30er-Jahre hatte sein Vater mit der Arbeit an der Konstruktion eines Lokomotiventyps begonnen, der größer und stärker sein sollte als alles bis dahin in Norwegen Gesehene. Harald durfte sich die puzzleähnlichen Zeichnungen ansehen, die er zwar schön fand, bei denen er sich aber nie vorstellen konnte, wie das, was auf ihnen dargestellt war, in Wirklichkeit aussehen würde.
Eines Abends, nachdem sie in der Halvdan Svartes gate gemeinsam gegessen hatten, nahm sein Vater ihn mit runter zum Ostbahnhof. Harald war 14 Jahre alt. »Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte sein Vater. Das war typisch für ihn, er sagte nie viel. Als Harald noch kleiner war, hatten sie oft zusammen Dinge im Garten oder an Bächen gebaut, Wasserräder oder kleine Brücken aus Kleinholz und Bindfäden, und nur zwischendurch hatte sein Vater etwas gesagt oder erklärt. Die Scheidung seiner Eltern war für Harald ein Rätsel. Eines Tages war seine Mutter mit den Kindern einfach nach Lysaker gezogen, und sein Vater war allein in der Halvdan Svartes gate zurückgeblieben. Wenn Harald später eine Andeutung in diese Richtung gemacht hatte, war der Vater nur noch schweigsamer geworden. An diesem Abend allerdings war er ungewohnt aufgeregt, ging leichten Schritts durch den Haupteingang des stattlichen Bahnhofsgebäudes, bei dessen Ausbau Haralds Großvater ganz zu Anfang seiner Karriere, als Angestellter in Georg Andreas Bulls Architekturbüro, mitgewirkt hatte.
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