MAUD-LAND
Ihr Zentrum in der Welt ist die Hütte, und besonders dann, wenn sie eingeschneit, halb unsichtbar im Gelände liegt. Sie nennt es Maud-Land. Das ganze Waldgebiet der Nordmarka ist Maud-Land.
Es geht auf den Abend zu, und sie sitzt an dem kleinen Tisch vor dem Fenster. Im Kamin schlagen die Flammen hoch und das Feuer im Küchenofen brennt gut. Die eine Hand am Rand des aufgeschlagenen Buchs, mit der anderen die Teetasse umklammernd – seit sie Rita Bohre kennengelernt hat, trinkt sie wieder mehr Tee –, hält sie ihre Augen nicht auf die Buchseiten gerichtet, sondern auf den verschneiten See, auf die Loipe, die von Heggelia hierherführt. Sie wartet, und obwohl es sich bei dem Buch um den neuen Roman von Thomas Mann handelt, kann sie sich nicht darauf konzentrieren. Sie wartet. Er wird hierherkommen, zu ihr. Sie wartet auf ihn, hier, im Maud-Land.
Sogar in dem Sommer, als beide zu Besuch waren, als sie beide gegeneinander abwog, betrachtete sie sie als Gäste in ihrem Reich, einem Reich, über das sie herrschte, seit sie klein war. Wenn sie in der Hütte im Krokskogen war, kehrte immer auch ihre Kindheit zurück, und besonders deutlich in jenem Sommer, als ihre Sinne durch das Umgebensein von zwei Männern auf eine Weise geweckt wurden, die sie bereits vergessen gehabt hatte, Erinnerungen an die Jahre, in denen sie gemeinsam mit ihrem Vater zum Wandern hierhergekommen war. Alles, was sie über den Wald wusste, hatte ihr Vater ihr beigebracht. Im Frühling hatte er ihr gezeigt, wie man Weidenflöten schnitzte, so dass man die »Morgenstimmung« von Grieg darauf spielen konnte, er hatte sie die Namen von Tieren und Vögeln, Pflanzen und Insekten gelehrt, ihr die Biberspuren gezeigt, sie dazu angeregt, stehenzubleiben und dem Hacken des Dreizehenspechts zu lauschen, hatte in den Wipfel einer Kiefer auf der anderen Seites des Sees gedeutet, wo ein Fischadler sein Nest hatte, oder gegen einen morschen Stamm getreten, damit sie die Pilze, die Larven, das wimmelnde Leben darin studieren konnte, während sie gleichzeitig eine Zweigestreifte Quelljungfer bei ihrem Flug tief über dem Wasser einer Bachmündung beobachteten, Cordulegaster boltonii, wie er zu erzählen wusste, ein Name, den sie bis heute im Gedächtnis behalten hat. »Benannt nach James Bolton, einem Insektensammler aus dem 18. Jahrhundert. Stell dir vor, keiner weiß mehr, wer du bist, aber dein Name wird von einer Libelle weitergetragen.«
An den Wochenenden, die sie in der Hütte verbrachte, streifte sie für gewöhnlich allein in der Gegend umher. Sie mochte es, sich auf einen Stein zu setzen in dem Glauben, alles sei still, nur um dann festzustellen, dass die Stille aus einer Unzahl von Geräuschen bestand, dass es vor Leben überall nur so brodelte, raschelte, kroch, schnurrte und summte; dort konnte sie sitzen, je nach Jahreszeit, und zusehen, wie alles in Veränderung war, junge Bäume schossen aus der Erde empor, Bruchholz lag morschend auf dem Boden. Am allerliebsten mochte sie den Wald, nachdem es geregnet hatte, den Wohlgeruch, der dann in der Luft lag, wenn Fichtenzweige ihr die Schultern mit Regenwasser benetzten oder die Regentropfen auf einem Spinnennetz den Eindruck in ihr erweckten, sie stünde vor einer kleinen Galaxie.
Der Wald war eine andere Welt, vor allem durch das Moos, die dicken, grünen Teppiche, die mitunter große Flächen bedeckten. Deshalb, glaubte sie, zog sie sich immer grün an, wenn sie eine Waldwanderung unternahm, wie um eins zu werden mit ihrer Umgebung. Nur weniges konnte sie so in seinen Bann ziehen wie das Sonnenlicht, das auf feuchtes, grellgrünes Moos fiel, für sie war es wie ein eigener Planet; dann konnte es geschehen, dass sie sich hinunterbeugen musste, um zu sehen, ob etwas dort unten lebte, winzige Lebewesen. Bryophyta, dachte sie. Ich werde diesen Moosplaneten Bryophyta nennen. Ihr Vater, ein Bewunderer von Linné, hatte ihr diesen Namen beigebracht, genau wie viele andere lateinische Namen. Allgemeinbildung nannte er das.
Maud Evensen war in Jevnaker aufgewachsen. Ihr Vater war Büroleiter bei der Glasfabrik Hadeland und behauptete, Mauds Haar sei bei ihrer Geburt dunkel gewesen, hätte aber, weil sie sich so oft vor glühender Glasmasse aufgehalten habe, einen rötlichen Schimmer angenommen. Und es stimmte, als Kind hatte sie häufig das Werk besucht, die Glashütte mit dem Schmelzofen, wo die Glasbläser ihr dabei halfen, kleine Gegenstände zu formen, nicht selten Tiere, die sie im Wald gesehen hatte. Sie war stolz auf seinen Arbeitsplatz, stolz, wenn sie den Zug in die Stadt hinein nahmen und sie zusammen mit ihrer Mutter oder dem Vater den Kaufhäusern einen Besuch abstattete, Steen & Strøm, und besonders das Christiania Glasmagasin, die Abteilungen mit den glitzernden Schalen und Karaffen, Schüsseln und Vasen. Ihr Vater hatte ihr vorgeschlagen, sie solle in der Glasfabrik zu arbeiten beginnen, aber sie wollte etwas anderes werden. »Was denn?«, fragte er. »Ich will eine Elfin sein«, sagte sie. »Eine Lichtelfin.« »Du bist eine Elfin«, entgegnete er daraufhin, »aber das kannst du nicht dein ganzes Leben lang bleiben.« »Dann will ich Waldhüterin werden.«
Sie hatte mehrere Waldhüter getroffen, hatte in ihren kleinen Kojen gesessen und sich gedacht, das müsse die schönste Arbeit der Welt sein.
Ende März. Es ist das Jahr 1940. Maud sitzt am Tisch, vor sich den neuen Roman von Thomas Mann, Lotte in Weimar. Sie liest ihn auf Deutsch, auch wenn sich ihre Einstellung zum Deutschen in den letzten Monaten geändert hat, doch jetzt hat sie das Buch ganz vergessen, denn in dem immer noch über dem Waldrand hängenden Licht sieht sie einen Skiläufer mit schönen Schwüngen über den Nibbitjern kommen, er wechselt zwischen Diagonalschritt und kraftvollem Doppelstockhub, wirkt dabei aber entspannt, als ob es ihn keinerlei Anstrengung kostete oder er damit verdeutlichen wollte, er könne noch länger in diesem Rhythmus weiterlaufen, das 50km-Rennen am Holmenkollen, wenn es sein müsse. Er weiß, dass ich ihn beobachte, denkt Maud, er sieht den Rauch aus dem Schornstein. Sie hat Herzklopfen, kommt dann aber ins Zweifeln, schaut mit angestrengten Augen, und als der Skiläufer die Spur verlässt und in die zur Hütte führende, teils verwehte Loipe hinüberwechselt, erkennt sie, dass es Sigurd ist, der auf sie zugleitet.
Nicht Harald.
Unfähig aufzustehen, bleibt sie unschlüssig sitzen, bis sie hört, wie Sigurd sich draußen den Schnee von den Skiern klopft. Noch immer verwirrt, zweifelnd – er kommt unangemeldet – antwortet sie auf sein Türklopfen: »Komm rein.«
War es so? Wurde hier – ein Leben entschieden?
Obwohl sie versucht, ihre Enttäuschung zu verbergen, scheint Sigurd etwas zu ahnen, und er verwendet die ersten Minuten darauf, ihr zu erklären, viel zu umständlich, wie sie denkt, weshalb er es ist, der auf der anderen Tischseite Platz genommen hat, und nicht sein Bruder. Er lässt Harald entschuldigen, er sei verhindert, im Theatercaféen seien zwei Kellner krank geworden und Harald habe einspringen müssen, es tue ihm schrecklich leid, Sigurd solle sie von ihm grüßen lassen, erklärt er, wobei er mit kleinen Worten und Gesten gleichzeitig sein Unverständnis darüber zum Ausdruck bringt, dass ein Mann nicht alles, sogar seine Arbeit, dafür opfere, um eine Verabredung mit einer so attraktiven Frau wie Maud einzuhalten.
Sie schüttelt ihre Verwirrung ab, sie hat ja nichts gegen Sigurd, der jetzt einen kalten Schinken aus dem Rucksack holt, eine Gabe von Onkel Albert – der Schiffsreeder schaute immer mit irgendwelchen Leckereien vorbei –, dazu eine Dose grüne Erbsen, ein Abendessen also, Kerzenlicht, und hinterher kümmert Sigurd sich um den Abwasch und sie verbringen den Abend auf dem Sofa, Maud holt eine Flasche aus dem kleinen Lager mit Kräuter- und Gewürzschnaps – »gebrannt nach altem Geheimrezept«, wie ihr Vater gesagt hatte – und nimmt zwei kleine, glitzernde Gläser von dem Regal über dem einen Fenster, auf dem eine Reihe unterschiedlicher Gläser aufgestellt ist, alles Gläser, die in der Glasfabrik hergestellt wurden und die sie einzeln, im Rucksack, über einen Zeitraum von mehreren Jahren von Jevnaker hierherverfrachtet hat, das war ihr Ritual, zerbrechliche Gläser auf unwegsamen Pfaden durch dichten Wald transportieren, und immer die kleinsten Gläser aus ihren Lieblingssets, Edvard, Rondane oder Marie, Letzteres mit facettiertem Fuß und Scherenschliff am Kelch. In dem von draußen hereinfallenden Licht sahen sie oft aus wie eine Sammlung Riesendiamanten, und wenn sie allein war und beim Lesen an einem davon nippte, hielt sie es zwischendurch gegen das Fenster oder, abends, gegen die Paraffinlampe, und malte sie sich in ihrer Fantasie aus wie Zauberscherben, wie etwas, das ihr die Fähigkeit verlieh, die Welt auf andere Weise zu betrachten.
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