Groß und mit viel Fleisch. Das brauche ich. Das will ich.
*
„Wenn du glaubst, dass du uns verwirren kannst, nur weil du in Rätseln sprichst, dann täuschst du dich aber gewaltig“, fauchte Akinna ihn an.
„Also, bei mir funktioniert es“, stellte Dantra nüchtern fest. „Wie meinst du das, du bist vor dir selbst weggelaufen?“
„Es ist nicht meine Absicht, euch zu verwirren“, ging Inius zuerst auf Akinnas Behauptung ein. „Aber was gestern geschah, lässt mich nur schwer einen klaren Gedanken fassen.“ Wieder verstrich eine geistesabwesende Pause, bevor er Dantras Frage beantwortete. „Ich habe dir ja gerade erklärt, aus welchen Bestandteilen sich mein Name zusammensetzt. Ich denke, dass das Wissen darum nicht völlig verschwinden soll, dient dem Zweck, dass ein Zerrock nicht zufällig auf sein Elternhaus stößt. Das bedeutet, man wird dort eingesetzt, wo aufgrund der hohen Entfernung das Risiko verschwindend gering ist, beabsichtigt oder unbeabsichtigt irgendeinen Hinweis auf seine Herkunft zu erlangen. Jedoch befürchte ich, dass dieses ansonsten tadellos funktionierende System bei mir gestern vollkommen versagt hat.“
Sein fester Blick, seine aufrechte Körperhaltung, alles verschwand. Ihnen gegenüber saß nun nur noch die menschliche Abbildung eines morschen, blätterlosen Gehölzes, welchem auf nicht einmal halbem Wege, sich die Bezeichnung als Baum zu verdienen, die brütende Sonne und das fehlende Wasser jegliche Kraft genommen hatten. Seine Stimme wurde noch eine Stufe tonloser und nicht selten musste er über eine erdrückende Selbsterkenntnis schlucken.
„Meine Einheit war oben in Lingstir, als ich mit meinem Trupp zur Verstärkung in ein Haus gerufen wurde. Das Kind, das es zu holen galt, war das Erstgeborene aus einer langen Ehe, die bis dahin kinderlos geblieben war. Für die Eltern war daher die Schwangerschaft ein regelrechtes Wunder, ein Zeichen Gottes. Doch der Liberi-Epulo hatte das Kind als würdig zu dienen erklärt. Die Gegenwehr des Vaters war außergewöhnlich stark. Als ich das Haus betrat, hielten zwei meiner Kameraden die Mutter fest, während ein dritter versuchte, ihr das Kind aus den Armen zu reißen. Der Vater wurde von drei weiteren Mitgliedern meiner Einheit festgehalten. Anfangs konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Ich bemerkte aber etwas Funkelndes inmitten der vier miteinander ringenden Männer und hielt es für eine Klinge. Eine, die der Vater in den Händen hielt. Ich zog also mein Messer, drückte einen meiner Kameraden beiseite und stach zu.“
Dantra bemerkte, wie sich das schwache Licht des Kristalls in den Augen des Zerrocks funkelnd widerspiegelte.
„Erst da bemerkte ich sein Gesicht“, fuhr Inius fort. „Mein Gesicht. Ich schaute in das Gesicht meines Zwillingsbruders, von dessen Existenz ich vorher nichts gewusst hatte. Ich sah ihn zum ersten Mal. Meine Augen betrachteten einen Sterbenden und mein Messer hatte ihm den Tod gebracht.“
Es war, als wäre ein Sturm über das ohnehin schon karge Gehölz hinweggefegt. Ein Sturm der Verzweiflung und des schlechten Gewissens, der ihn gebrochen und in einer nicht lebenswerten Einöde zurückgelassen hätte. Inius vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Dantra wusste, dass es ihm schwerfallen musste, dem Aufbegehren seiner Gefühle, dem Schluchzen nicht nachzugeben.
Nach einer kurzen, drückenden Pause fuhr er fort, ihnen seine zerreißenden Seelenqualen darzulegen. „Aber das Schlimmste, das, was mir das Herz aus der Brust riss, stand mir noch bevor. Als der gellende Panikschrei der Mutter, mit dem sie seinen Namen genannt hatte, verhallte, sah ich von ihr zu einem älteren Ehepaar, das ängstlich und eingeschüchtert in eine Ecke kauerte. Ihre Augen, ihre Gesichtszüge, ihre ganze Statur, sie waren es zweifellos. Sie waren meine Eltern. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich meine Eltern. Und sie? Sie sahen mich. Ihren Sohn. Und gleichzeitig den Mörder ihres anderen Sohnes. Während unsere Blicke sich trafen, tropfte das rote Blut von der Klinge, deren Griff ich noch immer fest in der Hand hielt, zu Boden. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Ich hatte das Gefühl, lebendig begraben zu sein. Begraben unter den Menschen, denen ich im Laufe der Jahre so viel Leid zugefügt hatte.“ Ein tiefes, zittriges Seufzen unterbrach die Selbsterkenntnis seiner Grausamkeit nur kurz. „Ich ließ das Messer los und rannte. Rannte aus dem Haus, aus der Gasse und aus dem Ort. Ich sah mich weder um, noch hörte ich auf das, was mir meine Kameraden nachriefen. Ich rannte und rannte. Immer weiter. Erst hier stoppte ich. Und mir ist bewusst geworden, egal, wie weit oder wohin ich noch renne, was geschehen ist, ist geschehen. Das kann ich nicht mehr ändern. Diese Schuld werde ich lebenslang in mir tragen. Und dafür werde ich mich lebenslang hassen.“
Unter den misstrauischen Blicken Akinnas kroch er zurück an die Rindenwand des Baumes und kauerte sich dort, von ihnen abgewandt, zusammen.
„Dantra, leg dich zum Schlafen hin“, forderte Akinna. „Wir haben für heute genug gehört. Ich bleibe wach und passe auf, dass er seine Meinung nicht doch noch ändert und über uns herfällt.“
„Also, ich glaube nicht, dass er seine Meinung ändern wird“, entgegnete ihr Dantra. „Ganz im Gegenteil. Du solltest lieber aufpassen, dass er sich nicht selbst was antut.“
„Wenn er das für das Richtige hält, werde ich ihn nicht abhalten. Er hat so vielen Menschen Leid zugefügt, dass das vielleicht der einzige Weg ist, um Reue zu zeigen.“
Dantra ließ ein überlegendes „Mhh“ hören, bevor er seinen Schlafplatz herrichtete und diesen kurz darauf als solchen benutzte.
Ein Specht, der sich irgendwo hoch oben in ihrer naturbelassenen Nachtunterkunft mithilfe seines Schnabels Zutritt verschaffen wollte, weckte Dantra auf. Nur wenig Tageslicht schaffte es, durch den Blättervorhang der Dornenhecke und durch den schmalen Eingang in das Innere des Baumes zu dringen. Es war wie schon am Vorabend dem Kristall zu verdanken, dass man etwas sehen konnte.
Als Dantra sich aufsetzte, blickte er Akinna fragend an. „Hast du dich seit gestern Abend eigentlich bewegt?“ Sie saß exakt an dem Platz, an dem sie sich am Vorabend niedergelassen hatte.
„Guten Morgen“, antwortete sie nur und sah dann wieder zu dem noch schlafenden Inius.
„Was machen wir jetzt mit ihm?“, fragte Dantra.
„Ich weiß es nicht genau“, antwortete Akinna unentschlossen. „Wenn wir sichergehen wollen, dass von ihm keine Gefahr mehr ausgeht, muss ich ihn töten.“
„So wie ich die Sache sehe, kommt es nicht oft vor, dass ein Zerrock sich selbst von seinen Pflichten entbindet, oder?“
„Meines Wissens kam so etwas noch nie vor“, bestätigte Akinna seine Annahme.
„Nun, dann sollten wir erst mit Nomos reden, bevor du ihn tötest. Kann doch sein, dass er mit seinen Kenntnissen für unsere Sache noch von großem Nutzen sein kann.“
Akinna dachte kurz über Dantras Vorschlag nach, dann stand sie auf und weckte Inius mit einem leichten Tritt gegen seinen Rücken auf. „He, werd wach“, forderte sie ihn auf. „Es ist Zeit, eine Entscheidung zu treffen.“
Inius drehte sich langsam um und sah die beiden aus verquollenen Augen an. Kein Zweifel, es war noch nicht lange her, dass sein schlechtes Gewissen ihn endlich hatte einschlafen lassen. Er versuchte, sie durch Reiben zur Aktivierung ihrer Fähigkeit zu bewegen.
Akinnas folgende Frage half dabei ausgesprochen gut. „Willst du jetzt sterben? Dann bringe ich die Sache zu Ende.“
Sein Blick huschte von ihr Hilfe suchend zu Dantra. Da dieser aber auch einen Antwort heischenden Gesichtsausdruck zeigte, meinte er unsicher: „Wenn ich diese Entscheidung treffen darf, so würde ich unbedingt weiterleben wollen.“
„Unbedingt?“ Akinna neigte ihren Kopf ungläubig zur Seite. „Gestern Abend hatte ich eher den Eindruck, dass deine Taten dich selbst ins Grab treiben würden. Und nun willst du unbedingt weiterleben?“
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