1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Seine neue Höhle ging hinunter in den Boden, statt seitlich in einen Felsen hinein. Um sie herum war dichter Busch – damit war sie gut versteckt. Andererseits bedeutete das auch, dass näherkommende Jäger ebenfalls gut getarnt waren. Jedes Mal, wenn er hinausging oder zurückkam, stellten sich ihm die Nackenhaare auf bei dem Gedanken, etwas könnte im Unterholz auf der Lauer liegen und auf ihn warten.
Er betete immer, dass es dann schnell vorbei sein würde. Selbst nach all diesen Jahren hatte Ben noch immer die Bilder vor Augen, wie ihr damaliger Führer Nino bei lebendigem Leib in Stücke gerissen und aufgefressen worden war. Ben erschauderte bei diesen Gedanken.
In der Nähe des Höhleneingangs befand sich ein riesiger Baumstumpf, der sicher dreißig Meter in den Himmel ragte. Er hatte eine pelzige Rinde und seine ausgedehnte Baumkrone bestand aus langen, grünen Bändern, die eher an Schilfgras als an Blätter erinnerten. Im Verlauf der Monate hatte Ben Keile aus der Rinde herausgeschnitten, sodass eine Art Leiter entstanden war. Immer, wenn er in Stimmung war, kletterte er dort hinauf. Dann versteckte er sich in dem grasartigen Wipfel und betrachtete sein urzeitliches Königreich.
Ben atmete die feuchte Luft tief ein und bemerkte den inzwischen wohlbekannten fischigen Geruch des Dinosaurierkots. Hinein mischte sich der modrige Duft verrottender Pflanzen, die würzigen Pflanzenharze und die merkwürdigen Aromen der exotischen Blüten, die hier und da wuchsen. Riesige Insekten schossen durch die Luft und hoch am Himmel sah er die ledrigen Flughäute der Pteranodons Pteranodon, die auf thermischen Winden dahinglitten. Manche von ihnen waren kaum größer als Raben, andere riesig wie Flugzeuge.
In der Ferne ragten Köpfe auf riesigen Hälsen aus den Baumkronen hervor und senkten sich in wiegendem Rhythmus, um ganze Wipfel in ihren überdimensionierten Mäulern verschwinden zu lassen. Sie tröteten wie Elefanten, und diese schmerzerfüllten Rufe breiteten sich kilometerweit aus, um von Artgenossen irgendwo in der nebligen Ferne beantwortet zu werden.
Ben setzte sich auf. Er hatte gelernt, dass er in Bewegung bleiben musste, und die Gegend, in der er sich im Moment befand, erstreckte sich als weites, grünes Tal vor ihm, aus dem schroffe Felsklippen ragten. Die Geologie dieses vorzeitlichen Gebietes war beeindruckend, da die Erdplatten sich immer noch in starkem Drift befanden und das Erdreich regelrecht umgepflügt wurde.
Er hatte sich eine kleine Sitzbank in seinem Nest eingerichtet und schaute nun hinab auf den Boden. Er wusste, dass irgendwo dort unten Jäger unterwegs waren. Doch hier oben fühlte er sich sicher. Neben ihm befand sich ein geknüpfter Beutel, gefüllt mit faustgroßen Steinen – sollte jemals ein Tier ein zu großes Interesse an seinem Geruch entwickeln, würde er die Steine hinunterregnen lassen. Kein Lebewesen bekam gerne einen baseballgroßen Stein ins Gesicht, egal wie dick diese kantigen Schädel auch sein mochten.
Ben grinste mitleidslos, denn er hatte auch noch andere Tricks im Ärmel. Dies hier war sein Reich, und jeder Eindringling würde ganz schnell merken, dass Ben sich nicht ohne weiteres zum Mittagessen machen lassen würde.
Er seufzte und lehnte sich zurück, wobei er die Hände hinter seinem Kopf verschränkte. Einzelne Lichtstrahlen schienen durch den Nebel auf das Plateau – sein Plateau – das ganz anders aussah als zu der Zeit, aus der Ben gekommen war. Die Wände waren noch längst nicht so hoch, wie er sie kennengelernt hatte, denn das Tepui war noch jung und hatte gerade erst angefangen zu wachsen.
Doch selbst der reine Anblick erfüllte Ben mit Hoffnung und Angst. Er wusste, dass er eines Tages wieder dort hochklettern musste. Er hoffte jedenfalls, dass seine Theorie stimmen würde, und alles dort oben wieder in die Zukunft geworfen werden würde, wenn die feuchteste Regenzeit zurückkehrte. Wenn es so weit wäre, würde er auf jeden Fall an Ort und Stelle sein.
Ben musste beinahe vor Freude, Ungeduld und Frustration weinen. Er konnte nicht anders, als die lange Zeit, die er hier verbracht hatte, Revue passieren zu lassen. Es war wie ein Gefängnisaufenthalt, bei dem einen alle anderen Insassen in Stücke reißen wollen. Und zwar buchstäblich.
Auf seinen Reisen hatte er riesige Lavafelder gesehen, die aussahen wie die Oberflächen von fremden Planeten. Er hatte Täler durchquert, in denen Monstrositäten lebten, die nie ein Mensch beschrieben oder erforscht hatte. Es gab stinkende Sümpfe mit riesigen Blutegeln, die Dutzende von scharfkantigen Beinchen und pinzettenartigen Beißwerkzeugen hatten.
Seine Augen wanderten zurück zu dem jungen Tafelberg, und er spürte, wie sich in seinem Hals ein Kloß bildete. Alles an diesem gottverdammten Ort war gefährlich, aber dort oben, auf dieser erhobenen Landmasse, lebte ein Alpha-Jäger, der schlimmer war als alles, was hier unten unterwegs war. Diese Kreatur war der Grund, warum er überhaupt hier festsaß.
Er atmete tief durch und starrte dann weiter in die grüne Hölle, wie er es die meisten Tage machte. Die monströse Schlange, die Titanoboa, war nicht einfach ein weiteres Raubtier. Das Ding war eine Naturgewalt. Er konnte nicht anders, als immer wieder die letzten Minuten in seinem Kopf durchzugehen, in denen er die Schlange von Emma weggelockt hatte. Als Nächstes war das Chaos aus Wirbelwinden und den pulsierenden Wolken verschwunden und er war allein gewesen. Abgesehen von einem fleischgewordenen Albtraum, der ihn immer noch verfolgte. Es hatte ihn bis an den hunderte Meter tiefen Abgrund gedrängt, und als er dort stand, bemerkte er, dass da unten nicht mehr der Dschungel lag, den er kannte. Stattdessen war es das Höllenloch, in dem er nun fast zehn Jahre lebte.
Ben hatte damals keine Wahl gehabt, als sich diesem urzeitlichen Leben zu stellen. Er begann verbittert zu kichern.
»Ich bin der einzige Mensch hier, und das wird sich die nächsten 100 Millionen Jahre nicht ändern. Ich allein gegen die Monster.«
Ben schaute noch einmal zum Plateau. Eine Sache störte ihn. Auf seiner Wanderschaft hatte er kaum Exemplare der Titanoboa im Tal gesichtet, sie schienen es zu bevorzugen, auf dem Plateau zu leben. Oder irgendetwas zwang sie dazu, dort oben zu bleiben.
Ben wusste, dass er sich bald wieder in Bewegung setzen musste. In seinem aktuellen Domizil war er schon länger, als er sollte. Es war irgendein sechster Sinn, der ihm sagte, dass es nicht mehr sicher war.
Er wünschte, dass er zum Ozean zurückkehren könnte. Klar, dort gab es einen ganz eigenen Streichelzoo aus Monstrositäten, doch irgendwie hatte es ihm dort gefallen … bis er vertrieben worden war. Seine Mundwinkel gingen nach oben, als er sich daran erinnerte: Das endlos scheinende blaue Wasser, der frische Fisch und sein einziger Freund: Ralph.
»Ich vermisse dich, Kumpel.« Er seufzte und machte sich daran, die Leiter hinabzusteigen – doch dann hielt er abrupt inne und lauschte.
***
Die Jäger waren dem Geruch des merkwürdigen Tieres bereits kilometerweit gefolgt. Der Geruch seines warmen Blutes, der salzige Schweiß und sein Atem waren für sie unwiderstehlich. Ihr Anführer, ein zwei Meter großer Pteropode, dessen Zehen in sensenscharfen Krallen endeten, hielt inne. Er lauschte den Klängen des Dschungels und drehte dabei langsam seinen Kopf. Ihre Beute war nah, er konnte sie ganz deutlich riechen, doch war sie nirgends zu sehen.
Der Jäger schlich vorwärts, gerade im Begriff, sich zwischen zwei engen Baumstämmen hindurchzuquetschen, als sein dreistrahliger Fuß an einer Schlingpflanze hängenblieb, die dort gespannt worden war. Sofort raste ein horizontal gewachsener Ast, der mit geschärften Pfählen präpariert war, in einem Tempo auf ihn zu, das jede Reaktion unmöglich machte.
Читать дальше