Endlich drehte sich der Mann ganz zu Alex um. Mit der Hand, die Alex bis eben gerade nicht sehen konnte, weil der Mann seitlich zu ihm stand, hielt er sich ein Handy ans Ohr: »Bitte, was? Ich heiße Frank Weinheim. Warum?«
Alex spürte, wie er knallrot wurde. »Haben Sie gar nicht mit mir gesprochen?«
»Nein. Ich telefoniere mit meiner Verlobten.«
Alex wurde heiß und kalt auf einmal. Hanna schien diese Verwechslung kapiert zu haben, denn sie lachte laut auf und klatschte wie wild Beifall. »Entschuldigung«, sagte Alex. »Ich dachte, Sie hätten mit mir gesprochen. Das, was Sie gesagt haben, hat immer genau zu dem gepasst, was ich geantwortet hab.«
»Wirklich?« Der Mann zog die Augenbrauen hoch, behielt aber sein Handy am Ohr. »Lustiger Zufall.«
Alex fixierte das Gesicht des Fremden. »Glauben Sie an Zufälle?«
Der Mann lächelte. »Hm. Was würdest du sagen?«
»Dass Sie jetzt, ohne es zu wissen, mich praktisch dazu aufgefordert haben, meine Notizen zu einer Geschichte aufzuschreiben, das find ich schon interessant.«
»Wie ist es mit dir? Findest du auch, du solltest deine Notizen zu einer Geschichte aufschreiben?«
»Ja, schon.«
»Na, dann passt es doch. Tu’s einfach.«
Der Bus kam. Der Mann drehte sich um und stieg ohne ein weiteres Wort ein. Während sich Alex mit Hanna von der Bank erhob und auf den Bus zuging, las er die riesige Werbe-Aufschrift über der kompletten Seite des Busses: »Also zöger nicht länger und tu’s endlich!«
Alex blieb erschrocken stehen. So viele Zufälle konnte es doch eigentlich gar nicht mehr geben! Waren hier höhere Mächte im Spiel? Wollte hier jemand eine Botschaft an ihn weitergeben und nutzte dafür Menschen, Kalendersprüche und Busaufdrucke? Das konnte ja nicht wirklich sein. Oder erlaubte sich hier jemand einen Spaß mit ihm?
Immer noch den Kopf schüttelnd stieg Alex mit Hanna in den Bus. Ein merkwürdiger Tag war das.
Obst, Getränke, Brot. Wie viel? Schwer zu sagen. Akio stopfte in seinen Rucksack, was reinpasste. Wie lange würden sie überhaupt unterwegs sein? Mehrere Tage? Zu viel Gepäck war auch nicht gut. Pollum saß auf Akios Schultern und verfolgte mit großen Kopfbewegungen jedes einzelne Teil, das Akio in seinen Sack steckte, als wollte er genau überprüfen, was sein Herrchen mit auf die Reise nahm.
»Du reitest in den Tod«, jammerte die Mutter, die noch genauso wie vorher auf dem Hocker saß.
»Du wirst dem Moloch vorgeworfen wie deine Schwester«, fügte der Vater hinzu. Er stand mit schmerzverzerrtem Gesicht in der Stube und richtete unter Ächzen und Stöhnen die Möbel wieder auf.
»Adelia ist meine Schwester und ich werde nicht zulassen, dass fremde Männer sie in ihrer Gewalt haben«, sagte Akio laut und bestimmt. »Und wenn ich ebenfalls dem Moloch vorgeworfen werde, dann kann ich wenigstens sagen, dass wir den letzten Weg gemeinsam gegangen sind!«
Etwas unheimlich wurde ihm schon zumute, als er seinen Eltern diesen Satz so vorwarf. Aber er fand, dass dies in etwa so klang wie das, was Silva vorhin über sich und ihren Bruder gesagt hatte.
»Du bist erst fünfzehn«, knurrte der Vater.
»Was soll das heißen: erst fünfzehn?« Akios Augen blitzten böse, als er das fragte.
»Fünfzehn ist wenig von zehn entfernt. Vor Kurzem warst du erst zehn und hast in der Schmiede unterm Tisch gespielt.«
»Fünfzehn ist genauso weit von zehn weg wie von zwanzig!«, stellte Akio laut fest. »Stell dir einfach vor, ich bin fast zwanzig!«
»Ich wollte nur sagen, dass es sehr gefährlich ist«, warf der Vater ein. »Verstehst du das nicht? Bisher hab ich für die Familie gekämpft. Du nie. Wie willst du gegen die Häscher des Moloch ankommen, wenn du nie fechten, kämpfen oder Krieg führen gelernt hast?«
Die Mutter schluchzte: »Ich will nicht beide Kinder auf einmal verlieren.«
Dieses wehleidige Gejammer begann Akio zu nerven. »Vielleicht kriegst du ja auch beide Kinder auf einmal wieder zurück«, sagte er scharf. »Diese Möglichkeit gibt es immerhin auch noch.« Und zum Vater sagte er: »Ich tu es einfach, weil ich Adelia befreien will. Verstehst du das nicht? Wenn du zu schwach und verwundet bist, um für die Familie zu kämpfen, dann muss ich es doch tun, oder nicht? Ja, ich hab es nie gelernt! Aber ich hab einen festen Willen! Und der wird mich zur richtigen Zeit das Richtige lehren! Darauf vertraue ich!« Er griff nach dem Umhang mit der Kapuze und band ihn sich um die Schultern. Dann packte er seinen Rucksack und ging durch die Schmiede des Vaters in Richtung Stall.
In der Schmiede verlangsamte er seine Schritte und blieb vor dem großen Amboss kurz stehen. Wie oft hatte er hier dem Vater geholfen, das Feuer zu schüren, die Eisen zu beschlagen, Hufeisen zu formen, Schwerter, Spieße, Messer zu stählen und zu schärfen. Der Vater war schon immer ein kräftiger Mann gewesen, den Akio bewundert hatte. Aber er hatte auch oft kämpfen müssen. Und gerade in den letzten Jahren, seit die Priester des Moloch und die Späher der Bluträuber herausgefunden hatten, dass Adelia und Akio so wertvolles Blut in sich trugen, war die Familie häufigen Überfällen ausgeliefert gewesen. Heute also war es endgültig so weit: Die Räuber waren stärker als der Vater. Adelia war der Familie entrissen worden.
Akios Blick fiel auf das mittelgroße Schwert in der Ecke neben der Werkbank. Vor einigen Jahren, als er ein Junge von etwa zehn oder zwölf Jahren gewesen war, hatte er es mithilfe seines Vaters geschmiedet. Damals wollte er unbedingt ein eigenes Schwert haben. Und sie hatten gemeinsam eins hergestellt. Mit kunstvoll geschwungenem Querstück, lederumwickeltem Griff und stählerner Klinge. Akio war richtig stolz auf sein Erstlingswerk gewesen. Aber nach ein paar Monaten übertriebener Fechtübungen, bei denen er wild in die Luft gestochen und mit unsichtbaren Gegnern gekämpft hatte, war das Schwert hier in der Werkstatt gelandet, und irgendwann wurde es gar nicht mehr beachtet.
Jetzt fiel es ihm wieder auf. Unsicher nahm er den Griff in die Hand, hob das Schwert in die Höhe und betrachtete es vorsichtig, indem er es vor seinen Augen hin und her drehte. Pollum auf seiner Schulter reckte neugierig den Hals. Akio wusste nicht, wie man mit einem Schwert umging. Er wusste auch nicht, ob er mit Schwert überhaupt reiten konnte. Aber irgendetwas in seinem Inneren flüsterte ihm zu, er sollte es mitnehmen. Ein Krieger, der seine Schwester befreien wollte, brauchte ein Schwert. Hier hatte er eins. Er griff nach einem ledernen Schwerthalter aus einem der Regale, befestigte ihn an seinem Gürtel und ließ das Schwert hineingleiten. Ja, das fühlte sich gut an.
Alex und Hanna traten hinaus ins Freie und inhalierten die gute frische Luft des Frühlings, die sich in der Stadt ausbreitete. Den Logopäden hatten sie schnell gefunden und auch die Lerneinheit gut hinter sich gebracht. Die Sonne schien, die Spaziergänger liefen schon ohne Jacke draußen herum. Alles war gut.
»Komm, Hanna.« Alex setzte sich mit seiner Schwester in Bewegung. »Wir gehen zum Bus.«
»Ja.« Hanna strahlte. »Bus gehen.«
Diese vielen seltsamen Begebenheiten im Laufe des heutigen Tages waren schon merkwürdig gewesen, dachte Alex. Das Kreidestück heute Morgen in der Schule, das einfach mal um Alex’ Kopf herum eine Kurve geflogen war. Der Kalender, der seinen Spruch geändert hatte. Der Mann an der Bushaltestelle, der sich wirklich wie echt mit ihm unterhalten hatte. Und dann noch die Aufschrift auf dem Bus, die so wirkte, als wollte ihm zu guter Letzt der Bus auch noch etwas mitteilen.
Alex lachte vor sich hin. Schon krass, das alles. Das Gespräch und die Aufschrift an dem Bus konnte er sicher als Zufall verbuchen. Dass auf dem Kalender zweimal was anderes stand, war schon sehr merkwürdig. Eine Erklärung konnte sein, dass Alex beim ersten Mal nur grob auf den Kalender geschaut und den Spruch falsch gelesen hatte. Zum Beispiel, weil sich seine Gedanken irgendwie auf das, was er lesen wollte, übertragen hatten. Bestimmt gab es dafür irgendeine logische Erklärung. Und das mit der Kreide? Sicher hatte Marcel nur knapp an ihm vorbei geworfen und in seiner Wahrnehmung hatte Alex das Gefühl gehabt, als hätte die Kreide sich verlangsamt und eine Kurve genommen.
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