»Also«, wollte er seine Geschichte beginnen.
Die Mutter kam zur Wohnzimmertür und hatte ein Handtuch um ihren Kopf gebunden. »Hör mal, kannst du vielleicht auch mit Hanna zum Logopäden gehen? Sie hat heute wieder ihren Termin, aber ich hab beim besten Willen keine Zeit.«
»Zum Logopäden? Wo ist der denn? Ich kenn den gar nicht.«
»Klar kennst du den. In der Mühlenstraße am anderen Ende der Stadt.«
»Wie soll ich denn da hinkommen?«
»Mit dem Bus natürlich. Du hast doch eine Busfahrkarte. Und Hanna fährt mit ihrem Ausweis frei, das weißt du doch.«
»Aha.«
Die Mutter ging von der Wohnzimmertür zurück ins Bad. Dabei redete sie weiter: »Um halb drei hat sie den Termin. Nächste Woche kann ich wieder hingehen. Aber heute wär es mir echt eine Hilfe, wenn du gehen würdest.«
Puh. Mit Hanna Bus fahren? Den Logopäden finden? Wieder nach Hause? Wie lange sollte das denn dauern? Schaffte er das überhaupt? Was, wenn er Hanna unterwegs verlieren würde? Auf dem Spielplatz hier im Wohnblock war er schon oft mir ihr gewesen. Das war eigentlich kein Problem. Aber auch da war es einmal vorgekommen, dass sie plötzlich verschwunden war. Sie hatte irgendwo eine Taube gesehen, der sie so lange nachgelaufen war, bis vom Spielplatz nichts mehr zu sehen war. Er hatte eine ganze Weile wie verrückt nach ihr gerufen, bis er sie endlich in einer Seitenstraße gefunden hatte.
Und jetzt bis ans andere Ende der Stadt? Andererseits – das wäre eine willkommene Ausrede, keine Hausaufgaben machen zu müssen.
Alex drehte seinen Kopf Hanna zu: »Was meinst du, Hanna: Sollen wir zwei in die Stadt zum Logopäden fahren?«
»Ja!«, freute sich Hanna und klatschte in die Hände. »Hanna, Alex Stadt fahren!«
Ob das gut ging? Alex spürte allein bei dem Gedanken daran eine gewisse Aufregung. Auf der anderen Seite war es ja auch gut, mal etwas Neues zu wagen. In grübelnden Gedanken verhangen schaute er sich im Wohnzimmer um, als suchte er eine Antwort auf seine Unsicherheit. An der Wand neben dem Fernseher hing ein großer Monatskalender, auf dem immer irgendein schlauer Spruch stand. In diesem Monat war ein Jugendlicher mit einem Kind an der Hand abgebildet, die gemeinsam über eine sonnige Wiese schlenderten. Darüber stand in großen Buchstaben: »Tu’s einfach! Du wirst einen unvergesslichen Tag erleben!«
Alex schloss die Augen, legte seinen Kopf zurück auf die Rückenlehne des Sofas und grinste. Dieses Bild und der Spruch auf dem Kalender waren ja wie auf ihn zugeschnitten! Das hätten Hanna und er sein können. Und der Spruch war eine Mut machende Antwort für ihn. Mit einem Mal war der Nachmittag für ihn eine beschlossene Sache. Er entschied sich, dieses Bild und diesen Spruch als Motto für den Tag zu nehmen. Er grinste noch breiter und fühlte sich nun richtig motiviert für seinen Ausflug. Schon krass, wie manchmal Erlebnisse so genau zusammenpassten, als hätte jemand ein Drehbuch für den »Film deines Lebens« geschrieben, in dem einfach ein paar Zufälle zusammenzuspielen schienen, die aber nur dazu dienten, den Film zu einem Happy End zu bringen. Alex öffnete die Augen, um sich das Bild und den Spruch noch einmal anzuschauen. Beim Blick auf den Kalender fror sein Grinsen auf der Stelle ein. Der Kalender zeigte immer noch dasselbe Foto wie vorher: ein Jugendlicher mit einem Kind auf der Wiese. Aber der abgedruckte Spruch lautete nun plötzlich: »Dies ist kein Film. Dies ist dein Leben!«
»Was machst du denn hier?«
Das Mädchen mit den dicken, lockigen roten Haaren warf Akio einen scharfen Blick zu, während sie zwei Häuser entfernt ihrem Pferd eine Decke über den Rücken legte und einige Gepäckstücke daran befestigte. Ihr Name war Silva.
»Was soll die Frage?« Akio blieb auf der Straße in der Nähe seiner Haustüre stehen. »Ich wohne hier.«
»Wieso haben sie dich nicht mitgenommen?« Wut und Verachtung lagen in ihrer Stimme. Sie ging um ihr Pferd herum und legte ihm mit schnellen Griffen das Zaumzeug an.
Silva war die Schwester von Agnus, dem dritten Goldblüter im Dorf neben Akio und Adelia. Während Agnus wie Adelia liebevoll und freundlich war, war Silva grob und kaltschnäuzig. Sie war genauso alt wie Akio: fünfzehn. In ihrer Kindheit hatte Akio sie oft auf der Straße mit Jungen Fußball spielen und manchmal sogar im Dreck raufen sehen, während Akio eher von ferne zugesehen und dabei über die Welt nachgedacht hatte. Silva schimpfte und fluchte ohne Hemmungen. Einmal hatte Akio sie mit einem toten Hasen ins Dorf kommen sehen, den sie mit Pfeil und Bogen selbst erlegt hatte. Meistens versuchte Akio, ihr aus dem Weg zu gehen.
»Ich habe mich versteckt«, antwortete er ihr. Pollum schaute mit seinem Kopf kurz aus dem Hemdkragen heraus, als wollte er nachschauen, mit wem sich sein Herrchen unterhielt.
»Glückwunsch!«, keifte sie zurück. Mit flinken und sicheren Bewegungen zog sie die Riemen rund um den Kopf des Pferdes zu. Ein Rucksack lag fest verschnürt auf der Straße.
Akio ging ein paar Schritte auf sie zu: »Du verreist?«
»Verreisen kann man das wohl kaum nennen!« Sie griff nach dem Rucksack und warf ihn sich auf den Rücken. »Ich hol mir meinen Bruder zurück!«
»Agnus!«, entfuhr es Akio erschrocken. Also doch – auch er war mitgenommen worden! Die Blutspäher hatten ganze Arbeit geleistet.
»Natürlich Agnus!«, raunzte Silva. »Ich hab nur einen Bruder.« Dann hielt sie in ihren Bewegungen inne, deutete mit dem Kinn auf Akios Haus und fügte hinzu: »Deine Schwester haben sie doch auch mitgenommen!«
»Ja.« Akio nickte.
»Und du? Willst du sie ihnen überlassen?«
»Nein! Natürlich nicht!«
»Warum zum Henker sitzt du dann nicht längst auf deinem Pferd und reitest ihnen hinterher?«
Tja, warum? Weil seine Eltern meinten, er würde das nicht schaffen? Weil er selbst es sich nicht zutraute? Weil er Angst um sein eigenes Leben hatte? Weil er wusste, dass Räuber wie diese auch nach seinem Blut lechzten?
»Schon klar«, gab sich Silva selbst die Antwort. »Du sitzt ja lieber in der Sonne und schreibst Gedichte. So jemand stürzt sich nicht in einen Kampf mit Räubern. Richtig?«
»Ich bin selbst ein Goldblüter«, erwiderte Akio. Doch in diesem Augenblick klang das nicht wie eine gute Ausrede. Trotzdem redete er weiter: »Sie suchen nach Leuten wie mir. Wenn ich ihnen hinterherreite, dann reite ich in den Tod.«
»Ich will dir mal was sagen, mein zarter Goldblut-Popo.« Silva kam ein paar Schritte auf Akio zu. »Selbst wenn mein Blut das goldenste Gold der Welt wäre, würde ich keine verdreckte Sekunde zögern, um meinen Bruder aus den Händen dieser Vollidioten zu befreien! Und wenn ich dabei mein Leben verlieren würde, dann würde ich selbst im Angesicht des Todes noch denken: Ich hab es für meinen Bruder getan! Und dann, zum Henker, würde ich voll Stolz und erhobenen Hauptes sterben!« Sie zog einmal fest und geräuschvoll den Rotz aus ihrem Hals nach oben. »Und es wäre eine Schande für mich und meine Familie, wenn ich mit einem Blatt Papier auf dem Schoß vor meiner Haustüre sitzen würde, süße Geschichten schriebe und dabei genau wüsste, dass irgendwo anders mein Bruder – mein eigenes Fleisch und Blut – einem gierigen Drachen zum Fraß vorgeworfen würde! Das kannst du mir glauben, verdreckt und zugenäht!« Damit spuckte sie den Rotz, den sie gerade hochgezogen hatte, mit einem festen Schuss Akio direkt vor die Füße, drehte sich um und ging auf ihr Reittier zu. Im nächsten Augenblick sprang Pollum aus Akios Hosenbein heraus und beschnupperte neugierig, was Silva dort hingespuckt hatte.
Akio wusste genau, warum er die Nähe von Silva mied. Ihre kalte, forsche und viel zu laute Art verunsicherte ihn und gab ihm das Gefühl, klein und unfähig zu sein. Aber wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass sie – wenn auch in unangemessenem Ton – recht hatte. Seine über alles geliebte Schwester war weg. Adelia erschien ihm mit ihrer unschuldigen und liebevollen Art fast schon wie eine Heilige. Und nun stand er hier auf der Straße und war zu feige, sich auf den Weg zu machen, um sie zu retten. Gleichzeitig machte sich die ungehobelte Nachbarin ohne zu zögern auf den Weg, um den Menschen zu retten, den sie liebte. Wer von ihnen beiden hatte nun das goldenere Blut?
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