Akio griff reflexartig mit der rechten Hand zum Schwert. Nur für alle Fälle.
»Hey!«, beschwerte sich der Wächter. »Der ist ja gar nicht gefesselt! Das soll ein Gefangener sein?«
»Was?«, rief Perfidus laut. »Hat sich dieser Hundskerl losgemacht? Wie konnte mir das entgehen? Na los, worauf wartet ihr? Fesselt ihn von Neuem!«
Akio erschrak. Wie bitte? Er sollte sich von den Wächtern fesseln lassen? Gehörte das zum Plan von Perfidus? Sollte er ihm wirklich vertrauen? Aber das Gespräch von heute Nacht – das hatte so ehrlich geklungen …!
Die beiden Wächter lehnten ihre Lanzen an die Mauern des Stadttores und packten Akio fest von beiden Seiten. »So, dann wollen wir mal!« Sie lachten mit ihren zahnlosen Mündern und beachteten nicht, dass der Speichel ihnen dabei unkontrolliert über das Gesicht lief und in langen Fäden vom Kinn tropfte.
»Lasst ihn los!«, schrie Silva plötzlich auf. Sie zog ihr Pferd am Zügel, sodass es sich laut wiehernd auf die Hinterbeine stellte und gleich darauf mit seinen Vorderhufen die Wächter angriff. Der erste Soldat stolperte laut schreiend zur Seite. Im nächsten Augenblick stand Silva mit ihrem Araber neben Akio und zog mit einem gekonnten Griff sein Schwert aus dem Gürtel. Dabei traf sie den zweiten Wächter am Helm, sodass auch der erschrocken zur Seite torkelte.
»Zu Hilfe!«, schrien die Wächter und griffen zu den Lanzen an der Wand. »Sie greifen uns an!«
»Weg hier!«, befahl Perfidus und forderte Akios Pferd mit einem Tritt auf, im schnellen Galopp mitten durch die Gassen davonzureiten. Silva dicht gefolgt hinterher. Dunkle Gestalten mit schwarzen Hüten, Mänteln und Umhängen bevölkerten die Stadt. Sie mussten laut schreiend und fluchend ausweichen, um nicht von den galoppierenden Pferden überrannt zu werden. Hunde bellten laut, wichen zurück oder liefen mit gefährlich fletschenden Zähnen neben den Pferden her.
»Ihr Narren!«, schimpfte Perfidus während der Flucht. »Jetzt sind sie hinter uns her! Hätten wir den Goldblüter gefesselt auf dem Pferd gehabt, hätten wir in Ruhe durchreiten können!«
Sie bogen in eine enge Gasse ab, ohne ihr Tempo zu verlangsamen. Immer wieder wichen schreiende Menschen aus. Männer, Frauen, Kinder. Auch alte Menschen. Die meisten mit Kapuzen, Hüten oder anderen Kopfbedeckungen, die den Blick auf ihre Augen gar nicht erst freigaben. Und die wenigen, die ihre Augen nicht bedeckt hatten, zeigten darin nichts als Hass und Verachtung. Von allen Seiten sprangen ihnen wild fauchende Leppids an die Beine, um ihnen das Blut auszusaugen, aber die Reiter schleuderten sie mit zappelnden Beinbewegungen von sich. Pollum schaute hin und wieder wütend aus Akios Umhang heraus und beschimpfte die Angreifer mit lautem Gequieke. Akio wurde immer mulmiger zumute. Wie war es wohl Adelia und Agnus ergangen, als sie in diese Stadt gebracht worden waren?
Von hinten waren Schreie zu hören: »Da sind sie! Haltet sie auf!«
Silva kannte keine Gnade. Wenn irgendjemand versuchte, eines der Pferde aufzuhalten, schwang sie wild und ohne Kontrolle Akios Schwert durch die Menge, immer abwechselnd zur rechten und zur linken Seite, sodass immer noch mehr Menschen schrien und fluchten. Perfidus trieb die Pferde zielsicher durch die Gassen, die mal enger und mal breiter waren, manchmal mit getöpferten Waren auf Tischen oder ausgebreiteten Decken, über die er achtlos die Pferde hinwegspringen ließ. Töpfe flogen, Scherben klirrten, Menschen schrien. Perfidus verlangsamte sein Tempo nicht. Silva ebenso wenig. Ihr schien die Jagd durch die Stadt zu gefallen, denn sie grinste, als hätte sie jemand zu einem Abenteuerspiel herausgefordert.
Dann endlich ließ Perfidus die Pferde in einer menschenleeren Gasse vor einem großen Holztor stehen und pochte mit seinen Fäusten laut dagegen.
»Wer ist da?«, kam eine raue Stimme aus dem Inneren hinter dem Tor.
»Perfidus!«
Während sich das Tor öffnete, spürte Akio einen Stich in seinem Herzen. Vergangene Nacht hatte Perfidus ihm gesagt, zum ersten Mal seit Langem hätte ihn wieder jemand nach seinem Namen gefragt. Und hier nannte er sich ganz selbstverständlich beim Namen. Er hatte ihn also angelogen. Was war noch alles gelogen?
Perfidus schritt langsam und aufrecht mit Akio im Gepäck durch das Tor ins Innere eines großen und stinkenden Hofes. Silva schritt hinterher, aber ihr Blick flog misstrauisch von einer Ecke zur anderen in diesem dreckigen Versteck. Hinter ihnen wurde das Tor verschlossen und verriegelt. Eine Horde von etwa zehn bis fünfzehn Männern, bewaffnet mit Säbeln, Schwertern und anderen Waffen, schien die drei zu erwarten. Bluthunde kläfften laut und schienen nur auf den Befehl zum Angriff zu warten.
»Hier bringe ich euch den dritten Goldblüter«, sagte Perfidus kühl und stieg vom Pferd herab. »Ich hab doch gesagt, ihr könnt euch auf mich verlassen.« Er zeigte auf Silva. »Bei der da müsst ihr aufpassen. Sie hat ein Schwert und sie schreit und tritt wie eine ungezähmte Stute.«
Akio konnte gar nicht so schnell reagieren wie seine Gedanken durch seinen Kopf purzelten. Er drehte sich erschrocken um und sah nur, wie drei Männer gleichzeitig Silva von ihrem Pferd zogen. Noch bevor er sein Pferd zur Flucht antreiben konnte, spürte er einen festen Schlag auf den Hinterkopf. Dann verlor er das Bewusstsein.
Auf dem Weg zum Spielplatz kam Alex wieder an Elena vorbei. Sie stand an der Bushaltestelle und telefonierte. »Hanna immer noch nicht gefunden?«, rief sie ihm nach, als er hektisch an ihr vorbeirannte.
»Doch, doch. Alles gut.« Plötzlich bekam er einen Einfall. Er blieb stehen und kam zu Elena zurück. »Kannst du mir trotzdem einen Gefallen tun?«
»Ja, gerne. Was denn?«
»Ich war mit Hanna schon auf dem Weg nach Hause, allerdings sind wir den Wiesenweg hinter den Häusern entlanggegangen. Weißt du, da, wo du Hanna vorhin zuletzt gesehen hast. Da ist mir eingefallen, dass ich was auf dem Spielplatz vergessen hab. Hanna war aber zu müde, um mitzukommen. Ich hab sie jetzt allein auf der Wiese sitzen lassen. Wenn du eben zu Hanna auf die Wiese gehen könntest und bei ihr bleibst, bis ich meine Sachen gefunden habe, dann wäre ich wirklich beruhigt. Verstehst du?«
Elena drückte das Gespräch am Handy aus, ohne sich von jemandem zu verabschieden. »Ja, klar. Kann ich machen. Ist kein Problem.«
»Danke. Vielen Dank.«
Elena versicherte sich noch mal kurz, ob sie den Weg richtig verstanden hatte, dann ging sie in die eine Richtung los und Alex rannte weiter in die andere Richtung zum Spielplatz. Als er dort ankam, lag sein Notizbuch natürlich nicht auf der Bank. Das war ja klar. Das war ja so was von klar! Alex suchte rund um die Bank herum, dann im Mülleimer neben der Bank, auf dem kompletten Spielplatz und überall dort, wo er vorhin nach Hanna gesucht hatte. Nichts zu finden. Das durfte doch nicht wahr sein. Sollte er jetzt etwa alle Straßen und Nebenstraßen noch einmal abklappern, die er vorhin entlanggerannt war?
Systematisch fing er bei der ersten Straße an, schaute in alle Seitenstraßen hinein, immer den Blick auf den Boden geheftet. Irgendwo musste doch etwas herumliegen. Sollte denn jemand sein Notizbuch gestohlen haben? Wer sollte sich für so eine Ansammlung von Zetteln interessieren? Je länger er suchte, desto schlechter fühlte er sich Hanna und Elena gegenüber, die ja nun doch schon eine ganze Weile auf ihn warteten. Nur gut, dass ihm das mit Elena noch eingefallen war. Dass sie ihm zufällig begegnet war. Zufällig? Was war hier überhaupt noch alles Zufall? Und was war eher so eine Art schicksalhafte Vorhersehung? Nein, darüber würde er jetzt nicht länger nachdenken.
In einer der Straßen, die an einer breiten Wasserrinne, so einer Art Kanal, entlanglief, sah er Marcel aus seiner Klasse mit einem Kumpel die Straße entlangschlendern. Vielleicht hatten die ja was gesehen. Während er sich ihnen näherte, hörte er, wie die beiden über etwas sehr Lustiges lachten und laute Kommentare abgaben. Als er sie fast eingeholt hatte, hörte er, wie Marcel mit theatralischer Stimme etwas vorlas: »Diese überhebliche Frage ärgerte ihn. Aber er beschloss, sich davon nicht runterziehen zu lassen.«
Читать дальше