»Und wer ist das, der kommen soll?«
»Ich weiß es nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich hab noch nie einen gesehen, auf den das zutreffen würde. Ich weiß auch nicht, ob diese Prophezeiung überhaupt stimmt. Wahrscheinlich ist es einfach eine Erzählung, die die Hoffnung in uns wachhalten soll, dass irgendwann einmal alles besser wird. Aber es ist ein schöner Gedanke. Denn wenn einen die Sehnsucht überfällt, dann kann man sich einreden: Es könnte ja sein, dass einmal alles besser wird.« Perfidus lächelte.
»Ein schwacher Trost«, fand Akio. »Und dafür solche Märchen erfinden …«
Ein lauter Schrei ließ Akio und auch Perfidus erschrocken in die Höhe fahren. Pollum schlug im Inneren von Akios Hemd aufgeregt quiekend Purzelbäume. Silva war es, die ihre Glieder mit lautem Geschrei reckte und streckte, um sich und die anderen wach zu bekommen. »So! Genug geschlafen!«, entschied sie lautstark. »Aufstehen, Sachen packen! Wir wollen bei Sonnenaufgang in Gomorra sein!«
»Hanna, wir müssen zurück zum Spielplatz.« Alex fasste Hanna an beide Schultern und schaute sie ernst und eindringlich an.
Hanna machte große und glasige Augen. »Hanna Beine müde.«
»Hanna, wir müssen aber. Hörst du? Ich hab mein geheimes Geschichtenbuch beim Spielplatz vergessen. Sollen wir es da liegen lassen?«
»Nein. Nicht liegen lassen. Alex holen.«
»Ich will es ja holen. Aber ich kann dich ja nicht hier alleine lassen.«
»Alex holen. Hanna hier sitzen.« Und um zu zeigen, wie brav sie sitzen konnte, setzte sie sich an Ort und Stelle auf den Boden. Sie grinste fröhlich. »Hanna sitzen.«
Leichte Panik stieg schon wieder in ihm auf. »Nein, Hanna, das geht nicht. Das geht wirklich nicht. Ich kann dich hier nicht alleine lassen. Nachher haust du mir wieder ab!«
»Nein. Hanna nicht abhauen. Sitzen.«
»Ja, das hab ich ja eben auf dem Spielplatz gesehen. Es geht nicht, Hanna. Du kommst mit und wir gehen beide zum Spielplatz und holen das Buch. Danach erzähl ich dir auch eine Geschichte. Versprochen.«
Hanna strahlte: »Ja, Geschichte!«
»Geschichte auf dem Spielplatz.«
»Nein, nicht Spielplatz.«
»Doch Spielplatz!«
Hanna kippte zur Seite und rollte sich auf der Wiese ein, als wollte sie sich schlafen legen. »Hanna müde.«
Alex merkte, wie er so langsam nicht mehr weiter wusste. Er setzte sich neben Hanna auf den schmalen Weg und streichelte ihr über den Oberarm. »Bitte, Hanna.«
Hanna hatte die Augen geschlossen. »Bitte, Alex, nein.«
Letzter Versuch: »Ich pack dich auf den Rücken und nehm dich Huckepack.«
»Nein, nicht. Hanna liegen. Immer nur hier liegen.«
Toll. Immer nur hier liegen. Obwohl Hanna weder wütend noch streng oder beleidigt war, schien klar, dass damit ihr letztes Wort gesprochen war. Was jetzt? Sollte er das Buch einfach da liegen lassen? Immerhin war es nur ein Buch. Ein Notizbuch mit ollen, zerrissenen Schmierzetteln. Weniger wertvoll als Hanna. Ganz klar. Andererseits steckte in diesem Buch ein Stück von ihm selbst. Eine Welt, die er geschaffen hatte, über die er der Herr war. Eine Welt voller Personen, die mehr oder weniger lebten und die in ihren Geschichten ein gutes Ende bekommen sollten. So was konnte man nicht einfach wegschmeißen.
Vorsichtig schaute er Hanna an. Sie lag so lieb und süß und unschuldig auf dem Boden, als hätte sie sich unter ihre Bettdecke gekuschelt und wollte schlafen. Wenn er sich einfach ganz doll beeilte? Er hatte sie vorhin ja auch wiedergefunden. Und er würde jetzt nicht so lange brauchen wie vorhin, als er beim Schreiben die Welt um sich herum vergessen hatte.
»Versprichst du mir, Hanna, hier liegen zu bleiben, bis ich wiederkomme?«
»Ja«, sagte Hanna müde, ohne die Augen zu öffnen.
»Ganz, ganz ehrlich?«
»Ja.«
»Okay. Dann lauf ich jetzt ganz schnell zurück zum Spielplatz und hol das geheime Geschichtenbuch. Und wenn du danach immer noch hier sitzt oder liegst, dann erzähl ich dir eine Geschichte. Ja?«
Hanna lächelte vergnügt und kuschelte sich noch mehr in den Boden hinein, als wäre er eine weiche Matratze. »Ja. Geschichte.«
Vorsichtig stand Alex auf. »Okay. Dann geh ich jetzt.«
»Ja.«
»Und du bleibst hier liegen.«
»Ja.«
»Nicht weglaufen.«
»Nein. Hanna nicht weglaufen.«
Alex rannte los. Bevor er an den unteren Häusern um die Ecke bog, schaute er noch einmal nach hinten. Hanna lag wie verabredet auf ihrem Platz.
Schon von Weitem konnte Akio die Stadtmauern von Gomorra erkennen. Mächtig und erhaben wuchsen schwarze Mauern entlang eines gewaltigen Felsengebirges empor und ließen in ihrer bedrohlichen Dunkelheit schon erahnen, wie viel Elend, Blutgier und Herzlosigkeit sich dahinter verbergen würde. Irgendwo hinter den dunklen Wolken über diesem finsteren, grauen Tal war die Sonne gerade dabei aufzugehen. Es wurde allmählich heller. Aber von Sonnenstrahlen war weit und breit nichts zu spüren. Kälte war es, die hier regierte und mit eisigen Händen um sich griff. Drei Reiter näherten sich der Stadt. Perfidus saß zusammen mit Akio auf dessen braunem Pferd. Perfidus vorne. Silva war bisher mit ihrem Araber vorne geritten, aber jetzt schien keines der Pferde als Erstes durch das Tor dieser dunklen, grauen, in Felsen gewachsenen Stadt reiten zu wollen. Je näher sie kamen, umso mehr spürte Akio, wie sich eine grausame Eisschicht um sein Herz legte. Jeder Schritt seines Pferdes schien ihn einer Höhle voller Erbarmungslosigkeit näher zu bringen. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn.
Silva, deren Pferd langsam neben ihm trabte, bemerkte das. »Na, Goldmännchen? Angst?«
Akio hasste es, so angesprochen zu werden. Er nickte. »Du nicht?«
»Willste lieber draußen bleiben?«, fragte Silva, ohne auf seine Frage zu antworten.
Akio schaute sie entsetzt an. »Nein, natürlich nicht!« Er fasste mit der rechten Hand nach seinem Schwert, um zu prüfen, ob er im Zweifelsfall schnell genug drankam. Falls es hier zu einem Kampf kommen sollte, hatte er keine Ahnung, ob er stark genug wäre. Er hatte keine Übung. Er hatte einzig den Wunsch, seine Schwester zu befreien. Ob ihm dieser Wunsch genug Kraft geben würde?
»Na gut. Ihr reitet vor!«, befahl Silva. »Der Alte zeigt uns den Weg zum Versteck seiner Räuberbande.« Sie schaute Perfidus streng an. »Und zum Henker: Wehe, du legst uns rein oder führst uns in eine Falle. Ich sag dir, ich kann kämpfen. Und es macht mir nichts aus, dir dein dreckiges Herz aus der Brust zu stechen. Klar?«
»Spar dir dein Theater!«, keifte Perfidus zurück. »Folgt mir lieber. Und wenn wir am Tor sind, wirst du, Goldblut, so tun, als seist du mein Gefangener. Schaffst du das?«
»Ich denk schon«, nickte Akio, auch wenn ihm nicht wohl dabei war.
Urplötzlich trieb Perfidus den Berber an und die beiden Pferde ritten im Galopp bis zum Stadttor. Akio gefiel es nicht, die Führung über sein Pferd abzugeben, noch dazu, ohne um Erlaubnis gefragt zu werden. Er war sich auch nicht mehr sicher, ob er Perfidus wirklich vertrauen konnte. Aber im Moment blieb ihm nichts anderes übrig. Pollum versteckte sich ganz unten in Akios Hemd und krallte sich an der Lederhaut fest.
Zwei Wächter mit Rüstung, Helm, Schwert und Lanzen musterten die Reiter misstrauisch, die sich dem Stadttor näherten.
»Was wollt ihr?«, fragte der eine barsch.
»Zu Demon und Lucio«, antwortete Perfidus.
»Wer sind die beiden anderen?«
»Der hier«, er zeigte mit seinem Kopf auf Akio hinter sich, »ist ein Goldblüter, den ich gefangen hab, das siehst du doch. Und die da hinten passt auf, dass er nicht abhaut.«
»Ein lebendiger Goldblüter!« Der Wächter grinste breit und zeigte dabei seinen zahnlosen Kiefer. Speichel lief aus seinem Mundwinkel. Er ging auf das Pferd zu und stupste Akio unsanft in die Seite. »So was hatten wir ja schon lange nicht mehr!«
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