Frida Michelson, geb. 1906, lebte und arbeitete zur Zeit der deutschen Besetzung als Schneiderin in Riga. Ihr unglaublicher Bericht über das Schicksal der jüdischen Bevölkerung, über Zwangsarbeit, Ghettoisierung und den anschließenden Massenmord im Wald von Rumbula, dem sie knapp entkam, ist ein einzigartiges authentisches Dokument. Ende 1971 konnte Frida Michelson mit ihren beiden Söhnen nach Israel auswandern. Sie starb dort im Jahr 1982. ( Aufnahme n.d. Krieg )
Frida Michelson
© E-book-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2020
© der deutschen Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH,
Hamburg 2020
© 1973, 2005, 2011, 2014 David Silberman
Deutsche Fassung nach der Übersetzung von Matthias Knoll herausgegeben
vom Harro von Hirschheydt Verlag, Riga
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: Uwe Melichar
Coverabbildung: Frida Michelson in einem selbstgenähten Kostüm in Jūrmala, 1934
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher „Europa“, 1945
eISBN 978-3-86393-553-5
Auch als gedrucktes Buch erhältlich, ISBN 978-3-86393-093-6
Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter
www.europaeische-verlagsanstalt.de
Der Beginn der Tragödie
Varakļāni
Die Rigaer Präfektur / Zwangsarbeit
Ghetto
Die erste Aktion
Die zweite Aktion
Auf der Flucht. Familie Bērziņš
Untergetaucht in Riga
Pesla
Frau Šeink
Olivia Viļumson und ihre Familie
Überwintern in Riga
Wieder bei Frau Šeink
Letzte Prüfungen
Die Befreiung
Die Jahre nach dem Krieg
David Silberman Zur Entstehung des Buches. Ein Nachwort
Paula Oppermann Massenerschießung in Rumbula und der Holocaust in Lettland. Eine Chronologie
Anmerkungen
Editorischer Hinweis:
Der vorliegenden deutschen Fassung liegt die Übersetzung der 2014 erschienenen lettischsprachigen Ausgabe „Es izdzīvoju Rumbulā“ (Ich überlebte in Rumbula) von Matthias Knoll zugrunde. Die lettische Übersetzung aus dem Russischen von Ilze Eris basiert auf der dritten Fassung der russischsprachigen Ausgabe „Фрида Михельсон: Я пережила Румбулу“ (Moskau/Riga 2011). Mit Zustimmung des Co-Autors David Silberman (s. auch in dieser Ausgabe sein Nachwort „Zur Entstehung des Buches“) wurde der Text anhand der 1979 in den USA erschienenen erweiterten englischsprachigen Ausgabe „I survived Rumbuli“ (Holocaust Library, New York 1979) ergänzt.
Der 22. Juni 1941 ist ein warmer und sonniger Sonntag, meine jüngere Schwester Necha 1und ich sind in fröhlicher Stimmung, denn heute kommt unsere Mutter zu uns nach Riga zu Besuch. Sie lebt mit ihrem Mann, unserem Stiefvater, in Līvāni 2. Wir bereiten alles für ihren Empfang vor, und wollen ihr Rigas schönste Ecken zeigen und sie danach nach Jūrmala 3bringen.
Während wir auf dem Bahnsteig stehen und auf den Zug warten, können wir unsere Freude über das bevorstehende Wiedersehen kaum bändigen. So lange ist sie nicht bei uns gewesen … Sieh nur, da kommt der Zug, unsere Mutter steigt aus, und wir laufen ihr entgegen. Doch Mutter ist in einer merkwürdig gedrückten Stimmung, sie umarmt uns und beginnt, ohne wie üblich alle möglichen Fragen zu stellen, gleich über ihre Sorgen zu sprechen:
„Ach Kinder, ich habe in letzter Zeit so schreckliche Vorahnungen und das Gefühl, dass ich mich beeilen müsste, euch zu sehen.“
Wir versuchen, sie zu beruhigen, und gehen gemeinsam in meine Wohnung in der Krišjāņa Barona iela. 4Das Essen ist schon vorbereitet, wir bewirten unsere Mutter, erzählen ihr Neuigkeiten und sprechen über Bekannte. Dann lassen wir sie ein wenig ausruhen und sie schläft ein.
Ich gehe derweil zum Laden, um Eiscreme zu kaufen. Auf der Straße herrscht ganz ungewohnter Lärm. Irgendetwas ist passiert. Plötzlich ertönt eine aufgeregte laute Stimme aus der Menge:
„Hitler hat die Sowjetunion angegriffen! Es ist Krieg! Gerade wurde es im Radio gemeldet, ich habe es selbst gehört!“
Ich bleibe stehen wie vom Donner gerührt. Also doch Krieg … und was bedeutet das für uns? Ich renne nach Hause, um die schreckliche Nachricht zu überbringen. Damit ist unser Fest zu Ende und auch die Freude über unser Wiedersehen. Es beginnen Stunden des Wartens, die ganze Zeit verfolgen wir beunruhigt die Nachrichten im Radio.
Zwei Tage später, am Nachmittag des 24. Juni, taucht ein deutsches Bombergeschwader über der Stadt auf, etwa dreißig Flugzeuge. Irgendwo in einiger Entfernung detonieren die ersten Bomben. Aus Flakgeschützen werden Salven auf die Flugzeuge abgefeuert, aber ohne Erfolg – keines von ihnen fängt Feuer. Pausenlos heulen die Sirenen, im Radio verkündet eine Stimme monoton: „Luftangriff! Luftangriff!“
Der Hausmeister klopft an die Wohnungstür: Alle Hausbewohner müssen sich unverzüglich in den Schutzraum im Keller begeben. ‚Was soll das schon für ein Schutzraum sein‘, überlege ich. ‚Wenn das Haus getroffen wird, würden wir darunter ohnehin alle bei lebendigem Leibe begraben werden.‘
Am nächsten Tag macht sich Mutter bereit, zurück nach Līvāni zu fahren. Als wir sie zum Bahnhof begleiten, ist uns schwer ums Herz; wer weiß, wo, wann und ob wir uns überhaupt wiedersehen werden, wenn die Erde unter den Füßen brennt.
Mein Bruder Schalom 5ist als Freiwilliger zur Roten Armee gegangen. Ich beschließe, für eine Weile in Varakļāni bei unseren Verwandten unterzuschlüpfen. Ich bin davon überzeugt, dass die Rote Armee rasch mit dem Feind fertig wird. Meine Schwestern Sarah 6und Necham wollen jedoch in Riga bleiben. Beim Abschied schärfe ich ihnen ein, dass sie, wenn die Front näher rückt, Riga sofort verlassen und nach Russland fliehen sollten.
Ich habe noch eine Fahrkarte ergattert und es geschafft, einen Zug nach Varakļāni 7zu bekommen, zu unseren Verwandten, den Talvinskis. Wie es sich zeigt, fahren viele Menschen in diese Richtung. Der Zug ist dermaßen überfüllt, dass die Türen der Wagen offen bleiben – sogar auf den Stufen stehen Leute. Als der Zug losfährt und Geschwindigkeit aufnimmt, strömt frische Luft in den Wagen, aber auch Rauch von der Lokomotive. Es herrscht Gedränge, die Reisenden haben besorgte Gesichter. Keiner spricht, nur hin und wieder ist das Aufschluchzen von Kindern zu hören. An den Bahnhöfen steigt weder jemand ein noch aus. Ich werde von der Menge fast erdrückt, vom Gewicht des Koffers fangen Hüften und Rippen an zu schmerzen. Erst in Krustpils steigt endlich ein großer Teil der Fahrgäste aus, und ich kann mich hinsetzen.
Meine Sitznachbarin schaut aus dem Fenster und überlegt laut für sich: „Ich glaube, hier steigen die Leute in einen anderen Zug um und fahren weiter nach Daugavpils oder Zilupe, um über die Grenze nach Russland zu gehen.“ Ohne jede Vorwarnung fährt der Zug plötzlich los und wir lassen den überfüllten Bahnhof von Krustpils hinter uns.
Ich überlege, ob es die richtige Entscheidung war, nach Varakļāni zu fahren. Was passiert, wenn die Deutschen Lettland einnehmen und besetzen?
So erreichen wir Stirniene 8, und ich haste in Richtung Ausstieg. Am Bahnhof stehen Pferdegespanne bereit, um die Passagiere je nach Bedarf weiterzubefördern. Abends gegen acht treffe ich in Varakļāni ein.
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