Ich mische mich in das Gespräch ein und sage, dass ich wahrsagen könne. Sie freuen sich und bitten mich in ihre Mitte. Das Kartenspiel wird mir gereicht, und ich lege los. Natürlich lege ich die Karten zum Guten aus: Ihre Angehörigen seien am Leben, bald würden sie sich alle wiedersehen und glücklich sein, allen Frauen prophezeie ich eine sonnige Zukunft. Mit dieser Beschäftigung vergeht die Zeit. Gegen ein Uhr mittags wird der Zug nach Riga bereitgestellt und es kommt Bewegung in die Reisenden, sie begeben sich zum Zug. Trotz des Gedränges bleiben die einzelnen Gruppen zusammen. Ich weiche nicht von der Seite der Lettinnen und ergattere neben ihnen einen Fensterplatz.
Ein Pfiff ertönt, die Lokomotive faucht, und der Zug setzt sich langsam in Bewegung. Wir sind unterwegs in Richtung Riga. Das eintönige Rattern der Räder, das Schaukeln des Wagens und die schlaflos verbrachte Nacht tun das ihre – ich gleite allmählich in den Schlaf.
„Kindchen, du hast wohl einen Albtraum gehabt?“, weckt mich meine Sitznachbarin. „Du hast furchtbar gestöhnt im Schlaf.“
„Was habe ich gesagt?“ Sofort bin ich hellwach.
„Du hast ‚Nein, nein!‘, gerufen, als ob dich jemand schlagen würde.“
Ich bemerke, dass ein Mitreisender, der an der Tür steht, mich nicht aus den Augen lässt. Ich versuche, ihn nicht anzusehen, wende mich ab und schaue aus dem Fenster. Doch als sich unsere Blicke für einen Moment treffen, überkommt mich eisige Kälte und Angst. Ich spüre seinen Wunsch, mich für jeden hörbar als Jüdin zu entlarven, dann bin ich erledigt. Ich reiße mich zusammen und beginne mit meinen lettischen Nachbarinnen ein Gespräch:
„Danke, dass Sie mich geweckt haben! Keine Ahnung, was in mich gefahren ist. Normalerweise schlafe ich tagsüber nicht.“
Meine Sitznachbarin bietet mir etwas zu essen an. Ich sage, ich müsse auf meine Figur achten, und wir lachen. Ich sehe, dass auch der Blick meines Bedrohers weich wird, er setzt sich hin und löst den Blick von mir. Erleichtert atme ich auf.
Der Zug läuft in Gostiņi ein. Aus Riga kommt uns ein langer Zug mit offenen Plattformwaggons entgegen, auf denen sich Hunderte lettischer Freiwilliger befinden, überwiegend junge Burschen in den graugrünen Uniformen der Selbstschutzeinheiten und der Armee der Ulmanis-Ära. An ihren Ledergürteln sind Waffen befestigt. Ich höre sie rufen:
„Sind bei euch im Wagen irgendwelche Juden?“
Mein Herz bleibt stehen vor Angst, das Blut schießt mir ins Gesicht – gleich werden sie hereinstürzen und mich ergreifen. Doch in diesem Augenblick ertönt am Fenster eine laute Antwort:
„In unserem Wagen sind keine Juden.“
Der Mitreisende, der mich mit seinem durchdringenden Blick so misstrauisch beobachtet hat, wiederholt ebenfalls diese Worte. Ich atme erleichtert auf, unser Zug fährt wieder weiter. Einige Stunden später bin ich endlich in Riga und mache mich sofort auf den Weg nach Hause.
Die Rigaer Präfektur / Zwangsarbeit
Es ist der 16. Juli. Auf dem Weg zu meiner Wohnung gehe ich durch die bekannten Rigaer Straßen, die immer von so vielen Juden bevölkert waren, doch jetzt ist nur selten einer zu sehen. Zusammengesackt und mit bekümmerten Gesichtern ziehen sie dahin, niedergedrückt von der Last der Sorgen und der Angst. Hingegen sieht man auf Schritt und Tritt geschniegelte deutsche Soldaten. Mit strahlenden Gesichtern spazieren sie mit lettischen Fräuleins herum, die sich mit hellen Kleidchen und weißen Hüten herausgeputzt haben. Sie genießen das Leben, scherzen, lachen und flirten.
Meine Seele ist von Kummer und Trauer erfüllt. Ich besteige eine Straßenbahn. In ihr befindet sich kein einziger Jude. Vielleicht ist es uns untersagt, mit der Tram zu fahren? Bald habe ich mein Haus in der Krišjāņa Barona iela erreicht. Weil ich keinen Schlüssel habe, komme ich nicht in die Wohnung hinein, also gehe ich zum Hausmeister Koslowski hinunter, der im selben Aufgang wohnt. Seine Frau öffnet die Tür. Ohne jede Einleitung, sogar ohne sie überhaupt begrüßt zu haben, frage ich sie, ob sie etwas von meinen Schwestern weiß.
„Das letzte Mal habe ich sie ein paar Tage vor dem Einmarsch der Deutschen gesehen“, antwortet sie. „Als sie die Wohnung verließen, wollten Ihre Schwestern den Schlüssel bei uns hinterlegen, aber ich habe ihn nicht angenommen.“
„Haben sie mir nichts ausrichten lassen?“
„Nein. Sie haben auch nicht gesagt, wo sie hingehen. Aber falls sie versucht haben, nach Russland zu fliehen“, die Koslowski zögert kurz, „dann wurden sie wahrscheinlich festgenommen und getötet. Hier sind entsetzliche Dinge geschehen.“
„O Gott!“
Ich bringe kein Wort mehr heraus. Stehe da wie angewurzelt. Mir wird schwarz vor Augen, ich drohe ohnmächtig zu werden. Die Hauswartsfrau nimmt mich bei der Hand, führt mich in die Wohnung und setzt mich auf einen Stuhl. Als ich wieder bei Kräften bin, bieten mir Nachbarn an, bei ihnen in einem freien Zimmer zu übernachten.
Nachdem ich am nächsten Morgen meinen Koffer bei den Hauswartsleuten untergestellt habe, gehe ich in die Stadt; vielleicht treffe ich Bekannte und kann die Lage klären. Doch sowie ich die Straße überquert habe, ergreifen mich zwei bewaffnete lettische Polizisten mit rot-weiß-roten 10Armbinden.
„In der Falle, Vögelchen!“, ruft der eine aus. „Bringen wir sie weg!“
„Was soll ich denn für ein Vögelchen sein?“, frage ich unwillkürlich, verblüfft von dem unerwarteten Zugriff. „Sie werden mich wohl mit jemandem verwechselt haben.“
„Red’ nicht so viel und beweg’ dich!“, herrscht mich der zweite Polizist an.
Sie zerren mich an den Armen durch die Straße, als drohte ich zu fliehen. Wir erreichen die Präfektur. Die Polizisten bringen mich in einen Keller, erst dann lassen sie mich los. In dem Raum befinden sich bereits zahlreiche Festgenommene – Männer und Frauen, junge und alte.
Ich bitte die Wachleute, rasch nach Hause laufen zu dürfen, um das Allernotwendigste zu holen – ich hatte nichts am Leib als ein dünnes Kleidchen. Meine Worte treffen auf taube Ohren, niemand wird hinausgelassen – nicht einmal Mütter, deren Säuglinge zu Hause geblieben sind: Die Frauen weinen und flehen, sie nur für einen Moment hinauszulassen, damit sie jemanden beauftragen können, die Kinder zu beaufsichtigen und zu füttern. Nichts vermag die harten Herzen der Polizisten zu erweichen – weder Worte noch Tränen …
In der Präfektur berichten mir Rigaer Juden von den Gräueltaten der Nazis in den ersten Tagen der Okkupation: Tausende von Frauen und Männern seien auf den Straßen aufgegriffen oder bei der Arbeit oder zu Hause festgenommen und ins Zentralgefängnis oder andere Gefängnisse gebracht worden. Die meisten Verhaftungen seien in der Nacht vorgenommen worden, wobei die Täter die Menschen ohne Bekleidung, im bloßen Nachthemd aus den Betten holten …
Insbesondere sei die jüdische Intelligenz in den Fokus geraten: Ingenieure, Juristen, Ärzte, Architekten, die Leiter von Produktions- und Handelsunternehmen. Sobald die Nazis jemanden dieser Berufsgruppen erkannten, holten sie ihn aus der Menge der Festgenommen heraus und erschossen ihn auf der Stelle.
Tausende von Juden, darunter auf den Straßen aufgegriffene Kinder, zwangen sie, die Ermordeten fortzuschaffen und zu begraben sowie Straßen und Gebäude zu reinigen. Vielen wurde befohlen, sinnlose Arbeiten zu verrichten, um die nationalsozialistischen Täter zu belustigen und ihre Opfer zu erniedrigen. Die Zwangsarbeit dauerte vom frühen Morgen bis zur Dunkelheit, und die Menschen mussten in der glühenden Sonne ohne Essen und Trinken arbeiten.
Nur ein Teil der zum Arbeiten Gezwungenen durfte nachts nach Hause zurückkehren. Sie erhielten aber den Befehl unter Androhung von Strafe, morgens wieder auf der Präfektur zu erscheinen, um dort für weitere Arbeiten eingeteilt zu werden. Die meisten aber wurden nach der Arbeit wieder direkt zur Präfektur gebracht, wo sie, ohnehin schon völlig erschöpft, auch noch die Nacht in unerträglicher Enge und stickiger Luft auf dem Boden hockend zubringen mussten und im Morgengrauen erneut zu schwer Sklavenarbeit genötigt wurden.
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