„Frau Krisone, Sie müssen diese Wohnung noch heute verlassen! Rühren Sie nichts an, was nicht Ihnen gehört, und geben Sie auf der Stelle das schwarze Kostüm seiner Eigentümerin zurück!“, so die entschiedene Anweisung.
Svipste gestattet mir, in der Wohnung zu bleiben. Er fügt hinzu, er würde bald jemanden herschicken, um alle fremden Sachen abzuholen. Ich danke ihm, habe jedoch Angst, in meiner Wohnung zu bleiben – man kann ja nicht wissen, was die Verwalterin alles anstellen kann. Schnell packe ich eine Tasche: etwas Wäsche, ein paar Kleider, den Mantel, ja, auch mein schwarzes Kostüm, und verlasse die Wohnung, ohne mit ihr noch ein einziges Wort zu wechseln.
Bevor ich das Haus verlasse, schaue ich noch beim Hauswart vorbei. Als die Koslowskis mich erblicken, werden sie überaus verlegen. Die Hauswartsfrau erblasst, dann errötet sie … Es scheint, als würde sie ein Gespenst sehen – Schweißperlen treten ihnen auf die Stirn.
„Ich habe nichts damit zu tun! Mein Mann … Ihm wurde befohlen … So ist das Gesetz. Sie haben sogar deinen Koffer mitgenommen!“, rechtfertigt sie sich.
Wir wissen beide, dass sie lügt. Trotzdem fährt sie fort:
„Deine Sachen sind nicht bei uns. Die Krisone, diese Schlampe, die sich in deiner Wohnung breitgemacht hat …“
Die Koslowska holt Luft und wechselt erleichtert das Thema:
„Sie hat sämtliche jüdischen Wohnungen im Haus ausgeraubt. Sie veranstaltet Feiern und führt ein wüstes Leben, alle Nachbarn beschweren sich. Warum bekommt die Krisone all die guten Sachen, und wir nur irgendwelchen Krempel?“
„Das wissen Sie selber am besten!“, antworte ich, schlage die Tür hinter mir zu und verlasse das Haus.
‚Wohin soll ich jetzt gehen? Wer könnte mich wohl aufnehmen? Ich werde zu Sonja Bobrowa gehen‘, überlege ich, ‚sie ist eine gute Freundin und wird mich nicht wegschicken.‘
Sonja Bobrowa wohnt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der Bruņinieku iela auf Höhe der Kreuzung Avotu iela. 14Als sie mich sieht, freut sie sich wirklich von Herzen. Wir haben uns lange nicht gesehen. Ich fange an zu weinen, Sonja beruhigt mich. Ich berichte von meinen Sorgen und Nöten, erzähle alles, was ich erlebt habe. Sonja fühlt mit mir und wischt sich hin und wieder eine Träne ab.
Später bereitet sie mir ein Bad. Nach langer Zeit kann ich endlich meine langen Haare kämmen. Ich lebe regelrecht auf. Das Kleid, das ich bei der Feldarbeit getragen habe, muss weggeworfen werden – es war schon fast aufgelöst und verrottet an meinem Leib. Nach all dem Durchgemachten, den Nächten über dem Stall in ständiger Todesangst, ausgezehrt von der übermäßig schweren Arbeit, bedeutet selbst eine einzige Nacht im Warmen bei lieben, gastfreundlichen Freunden in einem bequemen Bett eine wahre Glückseligkeit für mich. Vor dem Krieg hätte ich das nicht zu schätzen gewusst.
Doch meine beschwingte Stimmung verfliegt schon bald, als ich Sonja bitte, mir zu erzählen, was in Riga während meiner Abwesenheit vorgefallen ist. Ich will wissen, wie die Lage für die Juden ist, was wir zu erwarten haben. Sie empfiehlt mir, mich lieber zu erholen und das Gespräch auf den nächsten Tag zu verschieben, doch ich gebe nicht nach.
„Es gibt nur Schreckliches zu berichten“, beginnt Sonja. „Fast alle Synagogen sind geschändet und zerstört. Du kennst doch die große Choral-Synagoge in der Gogoļa iela. 15Sie existiert nicht mehr. Ein solches Baudenkmal! So viele alte Kunstschätze wurden in dieser Synagoge aufbewahrt! Nichts ist übrig geblieben … Das Gebäude und der Innenhof waren voller Menschen – Männer, Frauen, Kinder, alte und junge Leute … Flüchtlinge aus Litauen. Weiter als bis nach Riga sind sie nicht gekommen. Sie fanden Zuflucht in der Synagoge, doch dann … Eines Tages haben die Pērkonkrustler 16das Gotteshaus umzingelt, aus dem Hof, von der Straße und aus den umliegenden Häusern Juden hineingetrieben, rundherum Bretter und Stroh aufgestapelt und sie in Brand gesteckt. Meine Freunde, die das Ganze gesehen haben, berichteten von unmenschlichen und herzzerreißenden Schreien. Auf alle, die versuchten, aus den Fenstern zu springen, wurde sofort geschossen.
Dasselbe machten sie mit der Synagoge in der Stabu iela 63. Sie warteten, bis der beliebte Rabbi Kilow hingebracht wurde, trieben ihn in den Tempel zu seinen Gemeindemitgliedern und setzten das Gotteshaus in Brand.
Auch in die alte Synagoge in der Maskavas iela wurden die Juden aus den umliegenden Häusern zusammengetrieben. Als im Gebäude kein Platz mehr war, zwangen sie Juden, indem sie ihnen mit Erschießung drohten, Bretter und Stroh um die Synagoge zu legen, Petroleum darüberzuschütten und alles in Brand zu stecken. Als der Tempel in Flammen stand, haben die Pērkonkrustler auch sie erschossen. Mein Gott, wird das jemals jemand erfahren und diese furchtbaren Ereignisse ins Buch der Geschichte schreiben – die Flammen, die Schüsse und die Schreie, die sich mit dem Gelächter der betrunkenen Mörder vermischten?“
Sie erzählt, dass auch andere jüdische Heiligtümer in Riga ein ähnliches Schicksal ereilte – auf beiden jüdischen Friedhöfen wurden die Gebetshäuser niedergebrannt.
Auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Šmerlikamen in den Räumen, die für die Totenwäsche vorgesehen waren, kamen die Chewra-Kadischa 17-Mitarbeiter und ihre Familien in den Flammen ums Leben.
Auch auf dem Alten Jüdischen Friedhof in der Moskauer Vorstadt wurden sämtliche Gebäude mitsamt Dutzenden von Menschen, die in sie hineingetrieben wurden, niedergebrannt. Mich erfasst das Grauen angesichts dieser Barbarei, die an meinem Volk verübt wurde. Obwohl ich schrecklich müde bin, kann ich nicht einschlafen. Der Verstand weigert sich, das Gehörte zu akzeptieren. Das, was die Menschen vor ihrem qualvollen Tod erleiden mussten, übersteigt alles Vorstellbare.
Ich erfahre, dass es den Juden außerhalb Rigas nicht besser ergeht. Auch wenn die Nachrichten über das, was in Kleinstädten und Dörfern vor sich geht, noch bruchstückhaft und unzusammenhängend übermittelt werden, ist bekannt, dass die Juden dort auf Befehl der SS-Leute und von den einheimischen Handlangern der Nazis durchgeführten Massenermordungen vollständig vernichtet wurden. Lediglich in den größeren Städten wie Liepāja 18und Daugavpils 19sollen noch einige wenige Juden übrig geblieben sein, ebenso dass die Ortsschilder von Tukums, Jelgava, Bauska und anderen Städten bereits mit dem Zusatz „judenrein“ 20versehen wurden.
Schon in den ersten Tagen der NS-Okkupation hatte sich zwischen den Juden und der sie umgebenden Welt eine Wand der Entfremdung und Isolation gebildet. Juden durften ihre Wohnorte nicht verlassen. Ariern wurde jeglicher Kontakt zu Juden untersagt. Jede Berührung zwischen Letten und Juden wurde vermieden und so erfuhren die Juden nichts.
Insofern ist es sehr schwer herauszufinden, was in der näheren Umgegend von Riga vor sich geht, ganz zu schweigen von weiter entfernten Orten. Einige Juden, die von der Zwangsarbeit in anderen lettischen Städten zurückgebracht wurden und wussten, was in den Kleinstädten und Dörfern vor sich ging, sprachen jedoch nicht darüber – entweder um nicht noch weitere Trauernachrichten zu überbringen, von denen es Riga schon mehr als genug gab, oder um nicht Panik zu verbreiten. Weshalb wurden in der Provinz sämtliche Juden ermordet, in Riga hingegen nur ein Teil? Vielleicht waren sie Opfer derselben Massakerwelle, die in den ersten Julitagen auch mehrere Tausend Rigaer Juden fortgerissen hat? Oder aber … Man darf gar nicht daran denken! Erwartet uns wirklich auch ihr furchtbares Schicksal?
Ende August leuchtete für die Rigaer Juden am finsteren Himmel ein kleiner Hoffnungsstrahl auf – aus dem Zentralgefängnis wurden mehrere Dutzend jüdischer Ärzte und Handwerker entlassen, die unmittelbar nach dem Einmarsch der Deutschen verhaftet worden waren. Man wollte so gern hoffen, dass auch Tausende anderer Inhaftierter noch am Leben waren und nach Hause zurückkehren würden.
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