»Wer seid Ihr?«, rief sie beunruhigt. »Zeigt Euer Gesicht.«
Er trat in ihr Blickfeld. In der Schwärze der Nacht konnte sie die Konturen seines Halugs ausmachen, der langen Tunika, die ihn als Israeliten identifizierte. Der Zierrat des Kleidungsstücks – ein Metallgürtel, der um die Taille geschnallt war und bestickte Zierstreifen an den Ärmeln, Säumen und dem Halsausschnitt – verrieten seinen Status. Sein Gesicht konnte sie kaum erkennen.
»Hallo, Prinzessin.« Er näherte sich langsam. »Es ist viele Jahre her, seit wir uns zum letzten Mal trafen.«
Basemat erstarrte, als sie erkannte, wer vor ihr stand. Es hatte Gerüchte über die Rückkehr des Verräters nach Israel gegeben, nachdem er als führender Kopf eines Aufstandes gegen ihren Vater aus dem Land getrieben worden war. Sie versuchte zu sprechen, doch die Worte waren im Käfig der Erschütterung gefangen.
»Wollt Ihr Euren zukünftigen König nicht begrüßen?«
»Nehmt kein Schicksal an, das nicht das Eure ist, Jerobeam. Das ist Blasphemie.«
»Ihr und ich, wir beide wissen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis ich über die Stämme Israels herrschen werde.«
»Das Volk Israel ist dem Haus David treu. Es wird niemals zulassen …«
»Das hat es schon. Es gibt nichts, was Ihr oder sonst eine Brut Salomons tun könnt, um das zu verhindern. Die Menschen der nördlichen Stämme haben sich vom vereinten Königreich losgesagt. Ich werde sie führen, wie es die Prophezeiung vorhersah.«
Galle stieg in Basemats Rachen auf und sie kämpfte den Brechreiz nieder. Nicht länger fähig, ihn anzusehen, zog sie sich in ihr Zelt zurück.
Jerobeam folgte ihr. »Ihr werdet hören, was ich zu sagen habe. Seht mich an.«
Basemat drehte langsam den Kopf. Er hatte sich in den Jahren, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, nicht verändert. Seine dunklen, zornigen Augen lagen tief unter gewaltigen Brauen und ein kurzer, schwarzer Bart bedeckte ihm Kiefer und Kehle. Seine Haut besaß die Farbe von gebranntem Ton und Linien zeichneten seine eingesunkenen Wangen. Sein schulterlanges Haar, ein unbändiges Gewirr tiefschwarzer Locken, war mit einem hohen Turban in Schattierungen von Indigo und Myrte umwickelt.
Ihre Gedanken wanderten zu dem Tag zurück, als sie ihn kennengelernt hatte. Sie war in Anas Alter gewesen, als Jerobeam, ungefähr zehn Jahre älter als sie, von König Salomon ausgewählt wurde, den Fronarbeitern in Jerusalem vorzustehen. Ihr Vater hatte ihn wegen seines Fleißes und seiner Ehre aus Tausenden ausgesucht und ihm seine wichtigsten Bauvorhaben anvertraut. Jerobeam sollte die Burnden während des Baus des Millos befehligen, das die Stadt des Königs umschloss und befestigte, und auch während der Errichtung des königlichen Tempels für ihre Mutter außerhalb der heiligen Stätte.
Basemat hatte ihn beim Pessachfest getroffen. Er saß an der langen Tafel des Königs, nahm wenig vom Essen und Wein zu sich und sprach nur selten. Als Salomon seinen Hofstaat begrüßte, wandte er sich an seine liebsten Untergebenen, um ihnen vor allen Versammelten Anerkennung zu zollen. Es war das erste Mal, dass dem jungen Jerobeam diese Ehre zuteilwurde, und sie veränderte seine Haltung augenblicklich. Den Kopf erhoben und die Brust aufgeplustert wie ein Hahn stand er zwischen den anderen Stellvertretern des Königs. Der Stolz, der in seine Seele drang, war sichtbar.
Die Geschichte war so alt wie die Zeit: Sobald er einmal Macht gekostet hatte, war es ein Leichtes, einen Mann zu verleiten.
Die Wunde an ihrer Seite brannte sie von Neuem. »Ihr werdet für diesen Verrat gerichtet werden, Jerobeam.«
Ironiegespicktes Gelächter drang aus seiner Kehle. »Von wem? Eurem Bruder, dem machtlosen König? Ich ging zu Rehabeams Krönung, um im Namen der Menschen zu verhandeln. Er war so arrogant, dass unsere Bitte, die Last der Besteuerung durch Euren Vater zu verringern, verdampfte wie Regentropfen auf einem heißen Stein. Er bestand darauf, die Abgaben zu erhöhen, anstatt sie zu senken. Es war offensichtlich, dass er keine Vorstellung davon hat, was das Volk will, und deswegen wenden sich die Menschen von ihm ab. Sicher wisst Ihr, dass die Führer der zehn Stämme Israels die Krönung verließen und Rehabeam am Tage seiner Machtergreifung demütigten.« Sein Gesicht verzog sich zu seinem Ausdruck der Abneigung. »Er bekam nur, was er verdiente.«
Sie war sich des Vorfalls und der Spaltung, die ihm gefolgt war, nur allzu bewusst. Rehabeam hatte fünf Jahre lang abwechselnd versucht, die abtrünnigen Stämme entweder zu unterwerfen, oder Frieden mit ihnen zu schließen. Es war kein Geheimnis, dass er den Kampf verlor, und es war auch keine Überraschung, dass Jerobeam sich als Anführer des unzufriedenen Nordens erhoben hatte, denn er war es gewesen, der den Menschen eine Stimme verliehen und die Flammen der Revolution gegen das Haus David geschürt hatte.
»Warum erzählt Ihr mir das? Erwartet Ihr mein Mitgefühl? Ihr sollt es nicht bekommen. Die Respektlosigkeit, die Ihr meinem Vater entgegenbrachtet, und nun meinem Bruder, ist eine Schande.«
»Die Geringschätzung seitens Eurer Verwandtschaft für das Volk ist eine Schande. Die Ungerechtigkeit, mit welcher sie uns behandelten, damit sie ihre Truhen mit Gold füllen konnten.« Er hielt eine geballte Faust in die Höhe. »Ich bin diesen Menschen treu gesinnt … und ich werde ihnen zu ihrem Recht verhelfen.«
»Ihr wagt es, von Treue zu sprechen? Ihr, der versuchtet, Euren König zu stürzen, den Mann, der Euch vertraute und Euch alles gab?« Ein Kloß formte sich in ihrer Kehle und würgte ihre Worte. Noch immer entsetzte sie die Erinnerung an Jerobeams Versuch, die Regierung während Salomons Herrschaft an sich zu reißen.
Diese Tat war höchst abscheulich. Salomon hatte Jerobeam die Verantwortung über die Abgaben des Hauses Josef übertragen, dem einflussreichsten der Stämme. Jerobeam, ein Ephraimiter und daher Mitglied des Stammes, war charismatisch und sein Volk respektierte ihn, und so war er in der idealen Position gewesen, um Einfluss auf sie auszuüben. Salomon hatte ihn zu seinem persönlichen Vertreter dieses hochwichtigen Teils seiner Anhängerschaft gemacht und ihm die Aufgabe anvertraut, den Willen der Krone durchzusetzen, wenngleich dies nicht gern gesehen war.
Aber der Plan des Königs schlug fehl. Anstatt dem regierenden Haus David treu zu bleiben, verschrieb sich Jerobeam den Anliegen des Hauses Josef und verhandelte im Namen der Menschen. Salomon betrachtete das als Verrat und enthob seinen einst begünstigten Stellvertreter aus seinem Amt. Kurz nach seiner Entlassung versammelte Jerobeam, der in seine Heimatstadt Zareda zurückgekehrt war, dreihundert Pferde und eine Rebellenarmee um sich und plante einen Aufstand gegen Jerusalem.
Sein armseliger Versuch, den mächtigen König Salomon zu entthronen, wurde von einer Söldnereinheit zurückgeschlagen, die von ihrem geliebten Ahimaaz angeführt wurde, aber die Botschaft war überbracht: Das Königreich war nicht länger sicher oder unangefochten. Die Glückseligkeit, von Salomons Herrschaft eingeleitet, war vergällt. Nach seinem Verrat wurde Jerobeam ins Exil verbannt, aber mit oder ohne ihn köchelte die anti-salomonische Stimmung.
»Sagt mir, Jerobeam«, fuhr sie fort, »wohin seid Ihr geflohen, als mein Vater Euch aus Israel fortjagte?« Sie glaubte, die Antwort zu kennen, aber sie wollte es aus seinem Mund hören.
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