Ein weiterer Ägypter hob seinen Speer. »Dieser Junge ist vom Bösen Geist beseelt. Er muss sterben.« Er rammte seinen Speer in Eliezers Kehle und drückte ihn mit aller Kraft nach unten, während der Junge keuchte und Blut spuckte.
Basemat fiel auf die Knie und presste beide Hände auf den Mund. Zitternde beobachtete sie das brutale Verbrechen an ihrem Volk. Gefangene zu machen war Kriegsrealität; ein Leben zu nehmen, besonders das eines Kindes, war unverzeihlich. Das Blut des kleinen Eliezer sickerte in den Kalkstein, während er im verzweifelten Versuch, am Leben festzuhalten, wild um sich schlug. Drei Frauen verhinderten, dass seine wehklagende Mutter zu ihm eilte.
Als die Bewegungen des Jungen schwach wurden und sein Körper bleich, zog der Ägypter den Speer so grob aus seiner Kehle, dass er Eliezers Hals beinahe entzweiriss. »Stellt euch uns entgegen und ihr werdet dasselbe Schicksal erleiden.«
Ein bitterer Geschmack füllte Basemats Mund. Was stille Fügung in das Los der Israeliten gewesen war, verwandelte sich in heiße Wut. Sie stand auf und redete den Mann in seiner eigenen Sprache an. »Feigling. Ist das dein Verständnis von Eroberung und Sieg im Namen deines Königs? Kinder zu töten und Frauen zu foltern?«
Er fletschte die Zähne und richtete seinen blutigen Speer auf sie. Speichel tropfte ihm aus seinem herabgezogenen Mundwinkel.
Der Anführer trat zwischen die beiden. »Senke deinen Speer. Wir brauchen sie lebend.« Einem anderen seiner Männer rief er über die Schulter hinweg zu: »Fessle sie.« Dann wandte er sich Ana zu und ließ seinen Blick über ihren Körper gleiten. »Die hier kommt mit mir.«
Basemats Augen weiteten sich. »Nein … das könnt Ihr nicht tun. Meine Tochter gehört zu mir.«
Er ignorierte ihr Flehen und packte Ana am Ellbogen.
Das Mädchen biss die Zähne zusammen und wehrte sich gegen seinen Griff. Sie sah ihre Mutter mit dem Blick einer verängstigten Gazelle an.
Heißes Blut brannte in Basemats Gesicht. Sie warf sich auf den Ägypter wie eine tollwütige Katze und grub ihre Fingernägel ins Fleisch seines Unterarms. »Lasst sie los!«
Mit einer schnellen Armbewegung schüttelte er ihren Griff ab und warf sie zu Boden. Ihre Stärke konnte es nicht mit seiner aufnehmen, aber das hielt sie nicht ab. Sie kämpfte sich auf die Füße und packte Anas anderen Ellbogen mit ihrem festesten Griff. »Ihr könnt meine Tochter nicht mitnehmen.« Sie sagte es wieder und wieder, und mit jedem Mal wurde sie aufgelöster.
Sie zog gegen den Griff des Ägypters an, selbst dann noch, als sich Anas Gesicht vor Schmerz verzerrte. Basemats Arm zitterte von der Anstrengung. Sie spürte, wie ihre Hände abrutschten.
Weitere Soldaten kamen dem Anführer zu Hilfe, doch er winkte sie fort. Mit einer schnellen Bewegung riss er das Mädchen aus den Armen seiner Mutter. Ein teuflisches Lachen entsprang seiner Kehle und hallte vom Stein der unterirdischen Kammer wider. Er packte Ana bei den Haaren und zog sie die Treppe hinauf.
Basemat heulte auf, als sie zusah, wie ihr einziges Kind in den dunklen Katakomben verschwand. Sie spürte, wie ihr zwei Hände Jute um die Taille wickelten. Sie wehrte sich nicht. Sie ließ den Kopf hängen und weinte mit bebendem Körper, während ihre Handgelenke den Fesseln des Feindes unterlagen.
Die Nacht senkte sich rasch über die Ebene von Jesreel. Basemat saß auf einem abgenutzten Teppich auf dem Boden ihres Gefängniszeltes, die Knie an die Brust gezogen. Sogar im Frühling war der Atem der Nacht eisig, wenn er über die offene Ebene blies. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, gleichwohl eine Antwort auf die Kälte wie auf das Schicksal, das sie erwartete.
Obwohl sie ihr Trost gespendet hätte, nahm sie die Decke nicht, die für sie ins Zelt gelegt worden war. Sie erkannte die raue Webart der Wolle, in verblassendem Blau und Violett gestreift und an den Enden mit Fransen besetzt, als die Arbeit ihres Volkes. Sie fragte sich, welches Haus Scheschonqs Männer geplündert und von wessen Bett sie sie genommen hatten. Sie stellte sich vor, wie die Bewohner – der Qualität ihrer Stoffe nach zu urteilen einfache Menschen – aus ihrem Haus getrieben wurden, wenn sie überhaupt überlebten, aus ihren Städten stieben wie Ameisen, verängstigt und allem beraubt. Für sie war die gestohlene Decke ein Symbol des Leids jener Menschen und sie ließ sie liegen, denn sie anzunehmen hätte sich wie Verrat angefühlt.
Für eines war sie dankbar: Ihre Fesseln waren zerschnitten worden. Sie schob den langen Trompetenärmel ihres Kleides nach oben und betrachtete die blutige Haut ihrer Handgelenke, die von der Jute aufgescheuert worden war. Sie brannte nicht mehr als die Erniedrigung, eingesperrt zu sein.
Das Zelt ihrer Gefangenschaft war kaum groß genug, dass vier Menschen Schulter an Schulter aufrecht darin hätten stehen können. Es war aus gewebtem Ziegenhaar gefertigt, das zu einem breiten Tuch zusammengenäht und mit hölzernen Pflöcken in der Erde gesichert war. Ein Olivenholzzweig hielt die Decke in der Höhe. Eine schwache Flamme, die in einer tönernen Lampenschale brannte, flackerte über die Zeltwände und warf lange Schatten ins Halbdunkel.
Basemat hörte, wie sich ein Mann vor ihrem Zelt räusperte, und begriff, dass sie bewacht wurde. Ihre Züge verhärteten sich. Das vereitelte ihren Plan, das Zelt im Dunkel der Nacht zu verlassen und nach ihrer Tochter zu suchen. Sie war entschlossen, Anas Leben zu retten, selbst wenn es sie das eigene kosten würde. Der Gedanke, dass ihr geliebtes Kind in den Händen dieses Ungläubigen war, entfachte einen Zorn in ihr, den sie nicht kannte. Wut und Gewalttätigkeit entsprachen nicht ihrer Art. Aber sollte es soweit kommen, dann würde sie den Ägypter eher ausweiden, als zuzulassen, dass er ihrer Tochter die Unschuld raubte.
Sie holte tief Luft, um ihren Zorn zu bändigen. Sie durfte nicht den Kopf verlieren. Sie stand auf und ging zum Stoff, der den Zelteingang bedeckte. Durch einen Spalt spähte sie zum Himmel hinauf. Der Vollmond hing tief am Horizont. Sie blickte nach Osten, teilte den Stoff ein wenig und hoffte, ihre Bewegungen blieben unentdeckt.
Es war die Hoffnung eines Narren. Der Wachmann bemerkte sie unverzüglich und richtete seinen Speer auf sie. Er bellte etwas in einem Dialekt, den sie nicht kannte. Er war ein großer Mann von beträchtlichem Umfang, in dessen Augen ein mordlüsterner Schimmer lag.
Sie wich nicht zurück. »Ich habe großen Durst. Ich möchte einen Becher Wasser haben.«
Er stieß seinen Speer in die Luft und drängte sie, wieder hineinzugehen.
Sie blieb standhaft und starrte ihm in die Augen, zwei nachtschwarze Murmeln, die bar jeglicher Intelligenz schienen. »Bring mir Wasser.«
Seine Speerspitze berührte ihre Rippen. Er stieß weitere Worte aus. Als sie sich noch immer nicht rührte, drehte er den Speer.
Sie hörte das Leinen ihres Kleides reißen und verspürte ein Stechen. Sie blickte nach unten und sah Blut, das langsam aus der Fleischwunde sickerte. »Du bist gottlos«, zischte sie auf Hebräisch.
»Er führt nur Befehle aus«, sagte eine Männerstimme aus den Schatten.
Basemat war überrascht, im feindlichen Lager Hebräisch zu hören. Sie beobachtete die Reaktion des Wachmanns auf den unsichtbaren Eindringling. Er rührte sich nicht.
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