Itai kehrte mit einem Mann zurück, der aussah, als sei er ungefähr in Salomons Alter. Er trug die knielange Tunika eines einfachen Mannes und einen eng sitzenden, weiß und blau geflochtenen Turban auf dem Kopf. Die groben Kanten seines Gesichts wirkten übertrieben: Seine Nase war gerade und spitz wie der Meißel der Steinmetze; seine Brauen standen hervor; seine Wangen waren unter vorstehenden Knochen hohl. Er war von dünner Statur, wirkte aber nicht schwach. Zadok schrieb das weniger seiner Konstitution zu als dem raubtierartigen Blick in seinen Augen.
»Das ist er, mein Gebieter«, sagte Itai. »Er nennt sich Jerobeam, Sohn von Nebat, dem Ephraimiter.«
Jerobeam kniete vor dem König nieder und verneigte sich so tief, dass seine Stirn die staubige Erde berührte.
»Erhebe dich, Jerobeam.« Salomons Stimme dröhnte über den Berg.
Er tat wie geheißen und stand aufrecht, die Augen auf den König gerichtet.
Salomon hielt den Stoff in die Höhe. »Was bedeutet das?«
»Mein Herr König, es ist ein Stück des Umhangs von König Saul, der Euren Vater jagte. Es wurde vom Schwert Davids in der Höhle bei En Gedi abgetrennt.«
»Wie kam es in deinen Besitz?«
»Mein Vater war mit David in der Höhle. Er war einer der Männer, die ihm während seiner Rebellenjahre folgten und ihn zum König geweiht sehen wollten. In En Gedi fiel Eurem Vater der Feind direkt in die Hände, aber er entschied sich, ihn nicht zu töten. Stattdessen trennte er eine Ecke von Sauls Umhang mit einem Schwert ab, das genauso leicht hätte verwendet werden können, um ein Leben auszulöschen. Sogar Saul, der hasserfüllt war, begriff, wie bewundernswert Davids Handlungen waren. An jenem Tag hätte es in En Gedi zu einem blutigen Kampf kommen können.« Er deutete auf den Stoff. »Deswegen aber zog sich König Saul zurück und besiegelte Davids Schicksal.
»Euer Vater warf das Umhangstück weg, aber mein Vater sah etwas darin und hob es auf. Lange Jahre behielt er es als Erinnerung daran, wie es um die Sittlichkeit eines Mannes beschaffen sein sollte.« Jerobeam legte eine Hand auf sein Herz. »Nun gehört es Euch.«
Ein kleines Lächeln zeigte sich auf Salomons Lippen. Ohne seinen Blick von dem forschen Mann zu nehmen, reichte er Zadok den Stoff. »Was willst du, Jerobeam von Ephraim?«
»Arbeit, mein Gebieter. Ich besitze einen kräftigen Körper und einen starken Geist. Bevor er starb, vor einem Jahr, befahl mein Vater mir, zu Fuß von Zareda nach Jerusalem zu gehen, um zu helfen, das Haus des Herrn zu errichten.« Er deutete auf die Tempelkonstruktion. »Ihr müsst mich nicht bezahlen. Die Ehre wäre Lohn genug.«
»Es ist eine lange Reise von Zareda«, sagte Salomon. »Und es wäre eine lange Reise zurück.«
»Ich bin darauf vorbereitet, sie anzutreten, wenn Ihr mich fortschickt. Aber ich bitte Euch, es nicht zu tun.«
Der König wandte sich seinem Vorarbeiter zu. »Itai. Benötigst du Steinträger?«
»Ja, mein Gebieter.«
»Zeige Jerobeam, was er tun muss.«
Jerobeam ließ sich auf ein Knie nieder und neigte den Kopf. »Habt Dank, mein Gebieter. Ich werde Euch nicht enttäuschen.«
»Es ist keine leichte Aufgabe. Du wirst hart arbeiten.« Salomon schwang ein Ende seines Umhangs über seine Schulter. »So beweist sich ein Mann.« Er ging davon.
Kaum in der Lage, mit dem hurtigen jungen König Schritt zu halten, folgte Zadok ihm. Er dachte über Salomons Gerechtigkeitssinn nach, seinen Hang dazu, den Menschen sein Vertrauen und seine Großzügigkeit im Voraus zu schenken, damit sie diese anschließend verdienen oder sie verlieren konnten. Jenen, die sich als würdig erwiesen, erging es gut; für die anderen gab es keine Nachsicht. Diese aus Menschlichkeit geborene Anpassungsfähigkeit, im Zusammenspiel mit unerschütterlicher Stärke, wenn die Situation es erforderte, hatte ihm die Gunst aller eingebracht, von Königen bis zu Bettlern.
Über seine Schulter hinweg sagte Salomon: »Wir müssen uns beeilen, Zadok. Heute Nacht tafeln wir zu Ehren von König Hiram von Tyros. Seine Karawane wird jeden Moment eintreffen.«
»Ja, mein Gebieter.« Zadoks Stimme war schwerfällig.
Der König blieb stehen und wartete, bis der alte Mann zu ihm aufgeschlossen hatte. Es schien beinahe so, als hätte er das Alter seines Priesters vergessen.
Zadok blieb vor ihm stehen und stützte sich mit beiden Händen auf seinen Gehstock.
Salomon legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich will, dass Ihr und Benaja heute zu meiner Rechten sitzt. Und sorgt dafür, dass meine Mutter und der Prophet Nathan Ehrengäste sind.«
Der Priester nickte.
»Hiram war Israel immer ein guter Freund – erst meinem Vater und nun mir. Das Festmahl heute Abend ist von äußerster Wichtigkeit. Wir müssen unseren Bund mit Tyros vertiefen.« Er kniff die Augen zusammen und sah zur Stadt. »Jerusalem wird die großartigste Stadt im Osten sein. Es wird von den Gläubigen verehrt und von seinen Feinden gefürchtet werden. Das ist der Wille des Herrn; ich führe ihn nur aus.« Er wandte sich wieder Zadok zu. »Heute Abend werden viele Verhandlungen stattfinden. Ich werde Eure Erfahrung und Weisheit brauchen, Zadok, alter Freund. Ich möchte, dass Ihr mir ins Ohr flüstert.«
»Das habe ich immer und werde ich immer, mein Gebieter.« Es wärmte ihn, diese Worte auszusprechen. Er war seinem König bedingungslos treu ergeben.
Salomon drückte Zadoks Schulter mit fester Hand und sagte nichts mehr. Er drehte sich um und ging auf den Palast zu.
Zadok richtete sich auf und machte sich für den langen Weg nach unten bereit. Er überdachte die Worte des Königs: Wir müssen unseren Bund mit Tyros vertiefen. Fremde Länder und deren Herrscher spielten eine wesentliche Rolle für Salomons Regentschaft und waren für die Erweiterung seines Königreichs entscheidend. Zadok verspürte einen leichten Stich in der Magengrube. Jahwes Gesetz warnte davor, sich mit Nichthebräern zusammenzuschließen, denn sie könnten dafür sorgen, dass sich die Herzen der Kinder Israels fremden Göttern öffneten.
Salomon wandelte auf einem schmalen Grat.
Im Bankettsaal war eine Zederntafel aufgestellt, die sich von einem Ende der Halle bis zum anderen erstreckte. Zu jedem Gedeck gehörte eine glasierte Keramikschüssel mit einer Prägung des Löwenemblems, das zum Kennzeichen des Königs geworden war. Tonbecher waren neben den Schüsseln aufgestellt und warteten darauf, mit Wein gefüllt zu werden. In der Mitte des Tisches standen Gefäße voller Früchte und auf Tellern mit Standringen stapelten sich pralle Feigen.
An der Tafel standen lange Bänke und mindestens zwanzig Stühle und alle Plätze waren von Mitgliedern vom Hofe Salomons besetzt: Befehlshaber und Soldaten der Armee, mächtige Kriegshelden, Statthalter, Richter, Brüder und Verwandte, geehrte Untergebene, Propheten. Der König und sein Ehrengast waren noch nicht da.
Gespräche, dem Summen von Bienen gleich, füllten jeden Winkel des Raums. Zadok nahm seinen Platz an der Mitte der Tafel ein, neben dem hochlehnigen Stuhl aus geschnitztem Holz, der für Salomon reserviert war. Er nickte Benaja zu, dem kräftigen Armeeführer, dessen Ausstrahlung so ruhig und friedlich war, dass die Vorstellung von der tödlichen Natur seines Schwerts schwerfiel.
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