Nun lässt sich zu Recht einwenden, es gebe doch eine erkleckliche Anzahl historischer Untersuchungen, die sich der Zeit in ihren unterschiedlichen Facetten widmen, am intensivsten sicherlich im Rahmen der Historiographiegeschichte, der es um Vergangenheitsmodelle und Geschichtskonzepte zu tun ist.[13] Darüber hinaus finden sich – auch einige schon klassisch zu nennende – Studien vor allem zu Fragen der Zeitmessung und der Chronologie[14] oder aus den Jahren um 2000 auch zum allfälligen Phänomen der Jahrhundertwenden.[15] Doch wenn man von einigen Ausnahmen absieht, die beispielsweise die Geschichte der Zukunft[16] oder die Autorität der Zeit[17] im Blick haben, wird in der Mehrzahl dieser Studien Zeit immer schon als gegeben vorausgesetzt, aber weniger als kulturhistorisches Konstrukt problematisiert. Und genau hierum muss es gehen, um die Frage nämlich, welcher Zeitmodelle sich Gesellschaften in unterschiedlichen historischen Zusammenhängen bedienen, wie also Formen der Zeitorganisation und Zeitmessung eingesetzt werden, um Orientierung und Organisation innerhalb soziokultureller Zusammenhänge zu bewerkstelligen.[18]
In der Einleitung zu Stephen Hawkings bekanntem Buch »Eine kurze Geschichte der Zeit« schrieb Carl Sagan den schönen Satz: »Wir bewältigen unseren Alltag fast ohne das geringste Verständnis der Welt.«[19] Man muss diesen Satz überhaupt nicht denunziatorisch verstehen, es handelt sich schließlich um die Feststellung der ganz normalen Komplexitätsreduktion, die wir alle nicht nur tagtäglich und ganz selbstverständlich praktizieren, sondern auch praktizieren müssen, wenn wir nicht wahnsinnig werden wollen. Wir können uns den Luxus schlicht nicht leisten, uns jeden Tag aufs Neue zu fragen, warum die Dinge so sind, wie sie sind – ansonsten kämen wir morgens nicht einmal aus dem Bett. Sagan bezog seinen Satz auf den Bereich der Naturwissenschaften, insbesondere auf die Physik, und wollte damit zum Ausdruck bringen, dass der allergrößte Teil der Menschheit keinen Gedanken auf die Gestalt des Kosmos oder die Form von Elementarteilchen verschwendet – womit er zweifellos recht hat. Aber seine Aussage trifft ebenso auf gesellschaftliche und kulturelle Phänomene zu. Die Zeit ist für das Gesagte insofern prototypisch, als sie nicht nur unterschiedliche Aspekte aufweist (physikalische, biologische, soziale, kulturelle etc.), sondern wir mit ihr auch gänzlich selbstverständlich umgehen (müssen), ohne uns beständig die Frage zu stellen, was diese Zeit denn nun sei.[20]
Damit ist ein grundlegendes Problem auch für den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit der Zeit benannt: Zeit ist immer und überall. »Zu den wenigen fundamentalen Kategorien, mit Hilfe derer wir unsere Wahrnehmungen der Welt strukturieren, gehört die Zeit. Im Raum stellt sich uns das Nebeneinander der Welt dar, durch Zeit erfassen wir das Nacheinander. Auch speziellere Prinzipien der Welterfassung wie Kausalität und Finalität, mit denen wir konkrete Qualitäten von Abläufen bezeichnen, enthalten eine zeitliche Dimension. So ist Zeit zwar nicht als Wort, aber doch als Ordnungsprinzip des Bewußtseins universal.«[21] Gerade weil sie so grundlegend ist, ist Zeit so schwierig in den Griff zu bekommen. Ähnlich wie im Fall des Raumes oder des Wissens oder der Erinnerung oder der Religion oder anderer Themen, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten auf dem wissenschaftlichen Jahrmarkt der Aufmerksamkeiten hoch gehandelt wurden, lässt sich die Zeit nicht auf einen eindeutigen definitorischen Kern zurückführen. Spätestens an dieser Stelle ist es angebracht, eine Referenz zu zitieren, die – zumindest gefühlt – in jeder zweiten Publikation zum Thema Zeit herangezogen wird. Augustinus sagte bekanntermaßen: »Was ist also ›Zeit‹? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.«[22]
Bei Augustinus lässt sich mithin die Unmöglichkeit begreifen, Zeit definitorisch zu fassen. Sie lässt sich zumindest nicht in einem Sinne begrifflich auf den Punkt bringen, der entweder überzeitlich gültig oder historisch nützlich wäre. Zeit entzieht sich beständig allen Versuchen, sie sprachlich so einzuklammern, dass sie einem nicht mehr zwischen den Händen entgleitet. Es ist tatsächlich unmöglich, zu sagen, was Zeit ist. Ebenso ist es unmöglich, zu sagen, was Zeit nicht ist. Aber auch wenn diese Einsicht als bedauernswertes Eingeständnis einer Niederlage verstanden werden könnte, so halte ich sie offen gestanden nicht für sonderlich problematisch. Der Zeit geht es da nicht besser als zahlreichen anderen Abstrakta, mit denen wir ganz alltäglich und völlig unproblematisch umgehen, ohne uns ernsthaft die Frage zu stellen, was das eigentlich ist, das unser Leben so unübersehbar bestimmt.
Das Problem einer jeden Beschäftigung mit der Zeit besteht in der argumentativen Zirkularität, in die man sich unweigerlich hineinbegibt und der nicht zu entkommen ist. Ähnlich wie die Erkenntnistheorie immer im Modus des Erkennens operiert, die Hirnforschung immer von Gehirnen vorgenommen wird, die Auseinandersetzung mit der Geschichte immer schon historisch verortet ist, so ist auch »das Denken der Zeit schon immer ein Denken in der Zeit.«[23] Im Fall der Zeit können wir keinen Beobachterstandpunkt einnehmen, der sich gewissermaßen gottgleich außerhalb der Verhältnisse setzte, um sie nüchtern zu betrachten. Aber indem wir über die Zeit nachdenken und uns mit ihr beschäftigen, setzen wir Zeit nicht nur als Gegebenes voraus (was nicht funktionieren kann), sondern vollziehen und konstituieren Zeit im Zuge dieser Beschäftigung. Würde es uns gelingen, Zeit distanziert, gar externalisiert wahrzunehmen und zu erkennen, bräuchte es ein anderes Wahrnehmungssubjekt, das uns wiederum bei unserem Vollzug von Zeit beobachten würde, das seinerseits wiederum ein drittes Wahrnehmungssubjekt benötigte, das dessen Vollzug von Zeit beobachtete – ad infinitum . Wer von Zeit redet, darf sich offensichtlich vor Argumentationszirkeln und Paradoxien nicht fürchten.[24]
Der Weg, um des Problems der Zeit irgendwie habhaft zu werden, kann also kein definitorischer sein, sollte daher auch nicht durch das Zentrum verlaufen und die Frage stellen, was Zeit ist . Vielmehr ist ein Weg über die Ränder einzuschlagen. Dann müsste die Frage nicht lauten, was Zeit ist, sondern wie Zeit verwirklicht wird, wie sie verwendet wird, in welchen Zusammenhängen sie dingfest gemacht werden kann. An die Stelle der definitorischen und abstrakten Frage nach der Zeit tritt die historische Frage nach den Zeiten .[25] Denn: »Mit ›Zeit‹ füllen wir die Leere, vor der uns graut. Wir konstruieren Gewißheiten und Ordnungen im Hinblick auf das Vergängliche. Es ist nicht die ›Zeit‹, die wir messen, nein, wir messen Veränderungen, Dynamiken, Prozesse und nennen dies ›Zeit‹. Die Uhr mißt demnach nicht die ›Zeit‹, vielmehr ist es der Lauf der Zeiger, den wir als ›Zeit‹ bezeichnen und mit besonderen Maßstäben etikettieren (Stunde, Minute, Sekunde). Dieser Sachverhalt verleitete Einstein dazu, die ›Zeit‹ als eine ›hartnäckige Illusion‹ zu kennzeichnen. […] Daher ist die Zeit ein menschengemachtes Netz, in dem man Spinne und Fliege zugleich ist. Indem wir die ›Zeit‹ kontrollieren, kontrollieren wir uns selbst. Wir produzieren, so gesehen, jene ›Zeit‹, die auf uns wirkt.«[26]
Zeit kann also nicht als objektive Gegebenheit der natürlichen Ordnung verstanden werden, so dass sie sich im besten Fall nicht von anderen Naturobjekten unterscheiden würde, abgesehen von ihrer sinnlichen Unzugänglichkeit. Sie kann auch nicht als eine Zusammenschau von Ereignissen konzipiert werden, die auf der Eigentümlichkeit des menschlichen Bewusstseins basiert; Zeit würde dann jeglicher menschlichen Erfahrung vorausgehen und hätte apriorischen Charakter.[27] Vielmehr scheint es (zumal für geschichtswissenschaftliche Belange) angemessener, die Zeit in einem funktionalen Licht zu besehen. Die historische Perspektive dürfte für eine solche Position ausreichend Belegmaterial liefern. Das, was wir nicht selten in einem naturalistischen und gewissermaßen übermenschlichen Sinn als Zeit verstehen, war und ist immer um soziale Gruppen zentriert. Die Zeit ist ein Mittel zur Orientierung in der sozialen Welt und dient vor allem der Regulierung des Zusammenlebens unter den Menschen. Um gesellschaftliche Tätigkeiten im Fluss des Geschehens fixieren zu können, werden Naturabläufe genutzt, durch welche die Position und Dauer von Ereignissen bestimmbar wird.[28] Zeit kann zwar als Universalie bestimmt werden, das »heißt aber nicht, daß Zeit ein überall in gleicher Form vorhandener Bewußtseinskomplex ist. Zeit als strukturierendes Vorstellungssystem ist vorwiegend ein soziales Phänomen. Das bedeutet, daß die Zeit, die unser Denken und Handeln zutiefst prägt, nicht Zeit schlechthin ist; sie ist nur rudimentär ein dem Menschengeschlecht eingeborener, als einheitliche Ausstattung mitgegebener Vorstellungskomplex und lediglich in wenigen Fällen (wie z. B. beim Wechsel der Jahreszeiten) ein reines Ablesen von meteorologischen und astronomischen Phänomenen. Sie ist vielmehr in hohem Maße eine gesellschaftlich bedingte und gesellschaftlich wirksame Konzeption und mit den Eigenheiten einer Gesellschaft verwoben.«[29]
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