1 ...6 7 8 10 11 12 ...25 Um den Eindruck zu vermeiden, es handele sich bei der Zeit um ein Objekt jenseits menschlicher Zugriffmöglichkeiten, das als überwölbendes und übermächtiges Dach über uns schweben würde, hat Norbert Elias vorgeschlagen, das Verb ›zeiten‹ zu verwenden. Damit kann deutlich gemacht werden, dass es sich bei der Bestimmung von Zeit um einen sozialen und kulturellen Vorgang handelt. Es werden dadurch nicht nur Beziehungen aufgezeigt, durch das ›Zeiten‹ werden Beziehungen hergestellt.[30] Folgt man Armin Nassehi, lässt sich Zeit erstens nicht mehr als ontologische Einheit konstruieren, sondern es muss auf den operativen Aspekt der Konstitution von Zeit Wert gelegt werden. Zweitens kann es nicht genügen, den Ort der Zeit (als sozialer Zeit) entweder in das Subjekt in Form des individuellen Zeitempfindens zu verlegen oder im Sozialen zu verorten, so dass es ›die Gesellschaft‹ wäre, die Zeit hervorbringt. Vielmehr muss umgestellt werden von der Suche nach einer Identität von Zeit zu einer differenztheoretisch fundierten Herangehensweise, sprich: Zeit hat keinen eindeutig identifizierbaren Ort (wo immer dieser auch situiert werden mag: bei Gott, im Universum, im Individuum oder in der Gesellschaft), sondern Zeit entsteht im Zwischen.[31]
Zeit entsteht aber nicht nur in der Produktivität der Differenz, sie bringt ihrerseits Differenzen hervor. Eine ihrer wichtigsten Leistungen besteht laut Elena Esposito in der spezifischen Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft, die eine Gegenwart jeweils für sich trifft. Diese Unterscheidung ist keineswegs gegeben, wie man aufgrund des eigenen Umgangs mit diesen Zeitdimensionen meinen könnte. Vielmehr ist der spezifischen Differenzierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowohl eine historische wie eine soziale Dimension eigen, das heißt sie wird im Verlauf der Zeit selbst generiert, regeneriert und transformiert, und dies geschieht durch jeweils unterschiedliche Gruppen auf jeweils unterschiedliche Art und Weise.[32] In den Worten von Niklas Luhmann: »Was sich in der Zeit bewegt, sind Vergangenheit / Gegenwart / Zukunft zusammen , ist, mit anderen Worten, die Gegenwart mit ihren Zeithorizonten Vergangenheit und Zukunft.«[33]
Die Frage ist also, wie in bestimmten soziokulturellen Kontexten die Zeit diskursiv produziert wird, wie Vergangenheit und Zukunft als Projektionen erzeugt werden.[34] Denn die zeitlichen Orientierungen nach hinten und vorne sind notwendigerweise immer Konstruktionen einer Gegenwart, die sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzt. Vor einem solchen Hintergrund wird deutlich: »Ausgangspunkt kann nur die Gegenwart sein, weil Vergangenheit und Zukunft und auch die vergangenen Gegenwarten und die künftigen Gegenwarten nur als Formen (Modi) der jeweils aktuellen Gegenwart existieren.« Doch gerade hier hapert es, denn es »fehlt ein angemessener Begriff der Gegenwart, in der Vergangenheit und Zukunft jeweils zusammen aktuell zusammentreffen […].«[35] Der Frage nach der Gegenwart auch und gerade in historischer Perspektive auf den Grund zu gehen, dürfte sich vor allem deshalb lohnen, weil in diesem Zusammenhang die Paradoxie der Zeit sowohl theoretisch als auch empirisch greifbar wird. Die Zeit offenbart sich vor diesem Hintergrund nämlich als Form der Einheit von Aktualität und Inaktualität. Zeit stellt sich dar »als Identität einer Gegenwart, die es nicht gibt, außer als Unterscheidung einer Vergangenheit, die es nicht mehr gibt, und einer Zukunft, die es noch nicht gibt.«[36]
Mit einem solchen Zeitmodell zu operieren, ist eine durchaus beeindruckende historische Leistung, denn es produziert eine Form der Unsicherheit und der Kontingenz, die sich nicht mehr auflösen lässt, die sich nicht mehr in Gestalt einer vorherbestimmten Zukunft irgendwann und irgendwie in Sicherheit verwandelt. Gesellschaften, die mit einem solchen Zeitwissen umgehen, müssen also Entscheidungen treffen, müssen Zeitbindungen eingehen – und dies ist eine Form des Umgangs mit der Zeit, die keineswegs selbstverständlich ist.[37]
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich verdeutlichen, warum und auf welche Weise eine Zeiten-Geschichte möglich und notwendig ist: Vergangenheiten und Zukünfte sind immer Unterscheidungen, die eine Gegenwart für sich trifft. Nur bleiben sich diese Unterscheidungen als Beobachtungen niemals gleich, sondern müssen immer wieder vollzogen werden. Dadurch ergeben sich beständig neue Zeitbindungen, immer neue Kombinationsmöglichkeiten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und damit auch immer neue Konstruktionsmöglichkeiten von Welt in temporaler Hinsicht. »Man könnte auch sagen: Die Zeiten ändern sich mit der Zeit . Bestimmte Begebenheiten in der Gegenwart können die Vergangenheiten und Zukünfte eines Systems total ändern.«[38] Die Frage, die insbesondere eine Zeiten-Geschichte umtreibt, muss dann lauten: Unter welchen Umständen ändert sich das Zeitwissen von Kollektiven? Mit welchen Konsequenzen geschieht dies? Wer ist daran beteiligt, wer kann dieses Zeitwissen beeinflussen? Und wie können die unterschiedlichen Gleichzeitigkeiten und Zeithorizonte, die sich parallel zueinander ausbilden, koordiniert werden? Um sich dem komplexen Beziehungsgeflecht zu nähern, in das die Zeit eingebettet ist, muss die Zeit demnach selbst in eine zeitliche Perspektive gerückt werden – ist also eine Geschichte der Zeiten vonnöten.[39]
Das bedeutet aber auch, dass die differenz- und systemtheoretische Argumentation historisch und machttheoretisch angereichert werden muss. Öffnet der theoretische Blick die Augen für die Konstitution von Zeit als Form sozialer Sinngebung, lässt er nähere Erkenntnisse über die Instrumentalisierung von Zeit im gesellschaftlichen Mit- und Gegeneinander ebenso vermissen wie über den Einsatz von Zeit im Rahmen politischen Handelns, ganz zu schweigen von der historischen Spezifizierung konkreter Umgangsweisen mit Zeit. Damit stünde nicht nur die Frage im Mittelpunkt, welche Vorstellungen von und Umgangsweisen mit Zeit zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt vorherrschten und wie durchaus unterschiedliche Vorstellungen von Zeit parallel zueinander existierten, sondern es gilt auch dem Problem auf den Grund zu gehen, welche Auswirkungen diese Formen des Zeitwissens hatten. Denn wenn es einem Zeitwissen erst einmal gelungen ist, sich diskursiv zu verfestigen, also bestimmte Formen des Wahren und des Wirklichen auszubilden,[40] dann muss ihm historische Wirkmächtigkeit zugebilligt werden. Und an eben dieser Stelle wird es historisch interessant.
Ich möchte mit einem etwas spezielleren Blick auf mein Forschungsgebiet, die so genannte Frühe Neuzeit, also die europäische Geschichte in etwa zwischen dem 15. und dem frühen 19. Jahrhundert, diese allgemeineren Ausführungen etwas konkretisieren,[41] und zwar in zwei Richtungen: Welche Formen des Zeitwissens haben sich in dieser Frühen Neuzeit etabliert und welche Perspektiven ergeben sich hieraus für eine Zeiten-Geschichte?
Mit Blick auf die Frühe Neuzeit festzuhalten, dass sich die Zeiten geändert haben, mag zunächst trivial anmuten. Schließlich sind Gesellschaften beständig damit beschäftigt, an ihren Zeitmodalisierungen zu arbeiten und diese zu verändern. Diese Umordnungen betreiben alle Kollektive beständig in einem mehr oder weniger großen Umfang. Es bestehen jedoch mehr als nur ein paar Verdachtsmomente, die darauf hindeuten, dass sich in der Frühen Neuzeit Entscheidendes hinsichtlich der Emergenz temporaler Modalisierungen getan hat, und zwar in einer Art und Weise, die bisher noch nicht ausreichend gewürdigt worden ist.
Die standardisierte Antwort auf die Frage, warum und auf welche Weise die Frühe Neuzeit für den Wandel von Zeitwissen von Bedeutung ist, lautet, dass sich im sogenannten Zeitalter der Aufklärung – man möchte fast schon sagen: endlich! – das Modell einer offenen Zukunft entwickelt habe und man sich in Europa damit von traditionellen, vor allem religiös dominierten Zeitmodellen verabschiedet habe.[42] Ich möchte dem eine andere Hypothese entgegensetzen, die dahin geht, dass wir es im Verlauf des 17. Jahrhunderts mit einer deutlichen Aufwertung der Gegenwart zu tun haben. Diese zunehmende Bedeutung der zeitlichen Dimension Gegenwart führt in der Konsequenz dazu, dass die Autorität der Vergangenheit sank, ja, dass man sich in Form einer Historisierung von ihrer einstmaligen Übermächtigkeit abnabeln konnte und gleichzeitig die Gestaltbarkeit von Zukunft denkbar wurde. Diese Transformation – und das wäre der zweite Teil meiner Hypothese – war aber keineswegs monolithisch, sondern ging einher mit einer deutlichen Auffächerung der Zeitwissen (im Plural).[43]
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