«Fräulein Alice war mit dem Zimmer nicht zufrieden?»
«Sie nennt es ihr Gruselkabinett. Sie findet es allerdings lustig, denke ich, also lässt sie es einfach so. Übrigens würde sie nie etwas tun, was den alten Mann verletzen könnte. Obwohl er meiner Meinung nach inzwischen weiß, dass sie andere Interessen hat. Als er sie fragte, was sie sich zu ihrem fünfzehnten Geburtstag wünschte, hat sie sich für dieses Monster in ihrem Schlafzimmer entschieden.»
«Das Skelett?»
«Ja. Mein Ding wäre es nicht, aber jedenfalls hat es Babel klargemacht, dass er nicht noch mehr Puppen anschleppen sollte.»
Sie schloss die Tür des Puppenzimmers.
«Ich bin froh, dass ich hier nicht abstauben muss. Die ganzen Augen würden mich verrückt machen.»
Anika schien jeden Tag etwas mehr von ihrer Kühle zu verlieren. Offenbar war Hans ihr doch nicht so gleichgültig, wie sie es zunächst vorgegeben hatte. Auch sie war an ihm interessiert. Also war dies für Anika genau der geeignete Moment, seine Nähe zu suchen. Keine Arbeit und keine Betty. Die Aufgaben, um die sie nicht herumkam, wälzte sie ganz einfach auf Naomi ab, deren Belohnung aus immer mehr Zugang zu Alices Räumlichkeiten bestand. Sie nahm Naomi mit in Alices Privatkino, komplett mit Popcornmaschine. Sie zeigte ihr die versteckten Zimmer im Herzen des Stockwerks, ein Zimmer, das auf den ersten Blick nichts Mysteriöses hatte, mit einem glatten Parkettfußboden, großen, goldgerahmten Spiegeln an den Wänden und einer Decke, die mit lachenden, hinter Wolken hervorlugenden kleinen Engeln bemalt war. Eine Reihe von immer kleiner werdenden Naomis schob sich mit ihr mit, als sie sich über das Parkett bewegte.
«Das hier ist der Tanzsaal. Nicht das Lieblingszimmer unserer Prinzessin. Für sie keine Bälle und keine Prinzen. Daher ist er auch meistens abgeschlossen.»
Als Naomi meinte, alles gesehen zu haben, nahm Anika sie eines Tages mit in die Orangerie. Es war ein kleiner Raum, der sich an Alices Schlafzimmer anschloss und somit auch eine Glaswand mit Blick über die Stadt besaß. Der Raum war leer. Nur in der Decke war ein Loch, durch das Luft gesaugt wurde.
«Einen Augenblick», sagte Anika, als sie Naomis fragenden Blick bemerkte. «Das hier ist lediglich die Schleuse.»
Die Tür zwischen dem kleinen Raum und Alices Schlafzimmer klickte zu, und im selben Moment öffnete sich die Wand vor ihnen. Eine plötzliche Hitze schlug Naomi entgegen.
Anika schob sie weiter in einen Saal, der kein Saal mehr war, sondern ein Urwald. Sie liefen über einen breiten Pfad zwischen Bäumen, Sträuchern, Lianen und Blumen hindurch. Naomi bückte sich, als eine grüne Wolke auf sie zugeflogen kam. Es war ein Schwarm von Sittichen, der mit viel Gezwitscher auf den Ästen über ihrem Kopf landete. Die beiden gingen weiter. Rote und gelbe Flecken in den Büschen streckten sich aus, bekamen Flügel oder baumelten kopfüber von den Zweigen und pfiffen, als ginge es um ihr Leben. In dem, was vermutlich die Mitte des Saals war, obwohl man hier keine Wände sehen konnte und der Wald sich endlos weit fortzusetzen schien, stand ein langer Holztisch. Anika holte einen Lappen aus einer Schublade des Tischs und rieb damit die Stühle ab.
«Bei den vielen Vögeln, die hier herumfliegen, sieht man sich besser vor.»
Sie nahmen Platz. «Na, was sagst du dazu? Hiermit war unsere Prinzessin wohl zufrieden. So zufrieden, dass sie oft zum Frühstücken hierherkommt. Mehr Arbeit für uns, aber was kümmert das sie?»
«Und was ist das?»
«Noch so ein Geschenk von Babel. Seine Vorstellung von Afrika. Zum Glück hat er sich auf Vögel beschränkt und nicht auch noch Elefanten hier heraufhieven lassen.»
Sie lauschten dem Krächzen und Pfeifen der gefiederten Exoten.
«Schließ die Augen.»
Naomi gehorchte.
«Ist es nicht so, als wärst du in einem anderen Land oder auf Expedition in einem dunklen Kontinent, nur ohne die Schlangen und fiesen Insekten? Ich sage dir: Reiche Leute, die verstehen es zu leben.»
Naomi öffnete die Augen, als sie Schritte hörte. Eine junge Frau tauchte aus den Büschen auf.
«Du!»
Sie zeigte auf Naomi. Die erkannte Betty, die Frau aus dem Speisesaal, die Lisbeth so zusammengefaltet hatte.
«Ich bin wieder da. Du darfst gehen.»
Naomi schaute zu Anika. Die beiden waren sich tatsächlich zum Verwechseln ähnlich, das gleiche braune Haar und der gleiche arrogante Zug um den Mund.
Anika zuckte mit den Schultern.
«Tja, dein schönes Leben ist vorbei, Mädel.»
«Und grüß Lisbeth von mir», sagte Betty. «Sag ihr, ein Stapel alter Zeitschriften wäre nicht genug, um mich zu bestechen. Und zieh sofort das Shirt aus, wenn du unten bist. Ich will nicht, dass meine Kleidung in dem dreckigen kleinen Sub-Saal herumliegt.»
Naomi folgte dem Pfad zurück zu der Schleuse. Die Wand schloss sich hinter ihr. Ein kleiner blauer Vogel, der zusammen mit ihr in dem Schleusenraum gelandet war, flatterte gegen das Fenster, geblendet von dem plötzlichen Licht. Eine Pumpe sprang an, und der kleine Vogel verschwand durch ein Loch in der Decke. Er wurde wieder in die Orangerie gesaugt. Eine winzige blaue Feder wirbelte herab. Naomi pflückte sie aus der Luft. Am nächsten Tag sprang sie vor den anderen unter die Dusche. Als sie zu ihrem Spind ging, stand sie einen Augenblick mit dem Shirt vom vorigen Tag da. Schließlich warf sie es in einen der großen Wäschekörbe und zog sich ein Sub-Shirt über.
Als sie zurückkehrte, lag ein Brief auf ihrem Bett. Sie schaute zu den anderen Mädchen. Die wichen ihrem Blick aus, verfolgten jedoch jede ihrer Bewegungen. Sie riss den Umschlag auf und strich den Brief glatt.
«Wirst du uns verlassen, Naomi?»
Sie hatten natürlich gesehen, dass sie kein A-Shirt mehr trug, und als Naomi ihren Koffer packte, konnte Deborah sich nicht mehr beherrschen.
«Wirst du jetzt gleich ganz an die Spitze sausen? Sind die da oben so zufrieden mit deiner Arbeit? Ach nein, du bist offenbar keine A mehr, sehe ich. Bist du etwa wieder eine arme Sub? Wieder eine von uns? Wer hoch hinauswill, kann tief fallen.»
Naomi reagierte nicht auf sie.
«Oder waren sie doch nicht so zufrieden mit ihrer Vertretung, und du stehst wieder auf der Straße? Zurück zu deiner Familie? Ach richtig, stimmt, die hast du ja nicht.»
Naomi warf einen Blick zu Lisbeth, aber die schien sie zu ignorieren. Eine nach der andern verließen sie den Schlafsaal.
Naomi setzte sich auf ihr Bett. Sie wartete eine Stunde. Dann stand Prynne neben ihr.
«Bist du so weit?»
Naomi nickte. Sie war bereit.
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