«Ich habe ihn in einem der Gästezimmer gefunden», sagte Hans. «Und zwar angeleint an den Esstisch. Irgendwann einmal erwischen sie dich, Anika. Prynne hat auch im Rücken Augen.»
«Ach was. Wenn sie mich kriegen will, muss sie früher aufstehen und erst mal ihre Erfrischungspausen sein lassen.»
Anika führte ein imaginäres Glas zum Mund.
«Ein intelligentes Mädchen wie du hat wahrscheinlich schon genau darüber nachgedacht, was sie tun wird, wenn man sie hier ohne Referenzen entlässt.»
«Welchen Unterschied macht es, was wir tun? Die Prinzessin ist nicht da. Wie geht es ihr übrigens? Wir machen uns Sorgen um unser gelähmtes Vögelchen. Ist doch das erste Mal, oder, dass sie das Gebäude verlässt, seit ihre Familie – puff – in die Luft geflogen ist?»
«Deine Zunge, Anika, wird dich noch mal in Schwierigkeiten stürzen.»
« Du willst dich über meine Zunge beklagen?», fragte Anika.
«Wie lang bleibt Fräulein Babel weg?», fragte Naomi.
«Ja, Hans», sagte Anika, «wie lange wird unser schönes Leben hier noch dauern?»
«Keine Ahnung.»
«Sie ist doch nicht …?»
«Es geht ihr gut.»
«Ja, natürlich», sagte Anika. «Die Kleine besitzt einen vollständigen Hofstaat. Was hat sie zu klagen? Sie hat sogar Personal, um ihren Hund auszuführen.»
Alle drei schauten sie auf das kleine Tier, das durch die plötzliche Aufmerksamkeit auf einmal wie verrückt im Kreis sprang.
«Weil Betty nicht da ist, darf ich dreimal am Tag mit dem Vieh nach unten», sagte Anika zu Naomi.
«Etwas körperliche Bewegung tut dir gut», sagte Hans, während er sich umdrehte.
Anika warf die Hundeleine nach ihm, verfehlte ihn aber, und er ging lachend zur Tür hinaus.
«Es kommt ein Tag, da werde ich …»
«… ihn wie eine Ameise zermalmen?»
«So in der Art. Dieser arrogante Arsch. Er hält sich für unverzichtbar, weil er sich über den alten Mann geworfen hat, als das Auto explodierte.»
«Hans war bei dem Attentat dabei? Hat er auch gesehen, wer es getan hat?»
Anika antwortete nicht. Sie raffte die Leine vom Boden, und der Hund sprang an ihr hoch, weil er dachte, sie gingen jetzt spazieren.
«Lass mich in Ruhe, du dummes Vieh.»
Anika schob ihn von sich.
«Dieses Attentat hat sie alle getroffen. Die Kleine ist lahm, der Alte hat sich hier oben eingesperrt, und Hans …»
Sie tippte sich an die Stirn.
«Verrückt?», fragte Naomi.
«Er sieht überall Gefahren. Er vertraut niemandem, selbst Prynne nicht.»
Sie ließ sich wieder in den Sessel fallen.
«Wir können es vorläufig ruhig angehen lassen. Solange die Prinzessin hier nicht schläft, brauchen wir ihr Bett auch nicht zu machen. Das Frühstück muss nicht weggeräumt werden, und das Zimmer kann durchaus mal ein paar Tage lang Staub ansetzen. Deine Badezimmer kommen auch eine Weile ohne deinen Putzeifer aus. Genieße die Ruhe, denn sie wird nicht lange dauern. Prynne wird bald mit einem angepassten Arbeitsplan ankommen.»
Prynnes neu zu vergebende Aufgaben blieben jedoch aus, Betty blieb krank, und die Prinzessin, wie Anika sie nannte, kehrte nicht aus dem Krankenhaus zurück. Ihnen blieb also wenig zu tun. Anika hatte damit kein Problem. Sie zeigte Naomi die Zimmer, stolz auf den Luxus und Naomis Verwunderung genießend.
Die Schwimmhalle, die Bäder und die Gästezimmer hatte Naomi schon gesehen. Alices riesiges Schlafzimmer hatte sie sich kaum anschauen können, aber jetzt konnten sie ungestört darin herumstöbern. Naomis Blick fiel auf ein großes Gemälde, das bis zum Boden reichte. Es war irgendwas Abstraktes; kaum mehr als drei schwarze Balken auf einem roten Hintergrund.
«Das ist ein Rothko. Frag nicht, wie viel sie für diesen Quatsch bezahlt haben.»
«Und was ist das hier?»
Naomi zeigte auf das immense Skelett, das einen großen Teil des Schlafzimmers mit Beschlag belegte.
«Das da? Wer weiß. Irgendein prähistorisches Tier, denke ich. Wenn mich ein Milliardär fragen würde, was ich mir zum Geburtstag wünsche, dann würde ich mir etwas anderes aussuchen als einen Haufen alter Knochen. Die Kleine ist eigenartig, und das ist noch gelinde gesagt.»
«Ich hatte es mir hier anders vorgestellt.»
«Wie denn?»
«Mehr Gold. Mehr Marmor.»
«Fußböden aus Diamant und Brunnen, aus denen Wein sprudelt?»
«So in etwa.»
«Sie brauchen keine goldenen Wasserhähne und keine zimmerbreiten Fernsehbildschirme, um zu zeigen, wie reich sie sind. Sie zeigen es mit den riesigen Räumen, der Schwimmhalle und Alices Schlafzimmer, falls man das noch als Zimmer bezeichnen kann. Und mit dem hier. Hörst du das?»
«Ich höre nichts.»
«Genau. Das ist Stille. Unbezahlbar. Sie kommt nicht nur durch die Teppiche und das dicke Glas. Das hier ist die Ruhe von Menschen, die sich nicht zu beeilen brauchen, weil die Welt auf sie wartet.»
Lucy hatte ihr eigenes Zimmer mit Schränken voller Spielzeug und in der Mitte des Raums einen kleinen Park, in dem das Tier herumtoben konnte, wenn es draußen zu kalt war.
«Zum Glück keine Hundekleidung. Die Prinzessin findet es lächerlich, Tiere so anzuziehen, als wären sie Menschen.»
Umso beeindruckender dagegen war Alices Kleiderschrank. Es war weniger ein Schrank als vielmehr ein Flur – breit genug, um mit einem Bett hindurchzufahren – mit Schränken links und rechts, voll mit Shirts und Sweatern und Schüben, die vor feiner Unterwäsche überquollen, sowie Stangen um Stangen voll Kleider, manche in Kleiderhüllen. Das Ende des Flurs führte in ein eigenes kleineres Zimmer mit einem großen Spiegel an der Wand sowie Schränkchen, in denen die Gürtel, Handtaschen, Kettchen und Haarnadeln lagen. Anika strich mit dem Finger über den Rand des Spiegels, der daraufhin aufschwang. Dahinter verbarg sich eine kleine Metalltür.
«Ich konnte selbst noch nicht in diesen Safe hineinschauen, aber Betty zufolge lohnt es sich. Juwelen so groß wie Taubeneier.»
«Ich habe keine Ahnung, wie groß ein Taubenei ist», sagte Naomi.
«Es wird in jedem Fall dicker sein als dieser Plunder hier», sagte Anika und zeigte Naomi den Diamantring an ihrem kleinen Finger. «Den hat sie mir mal geschenkt, als sie gut gelaunt war. Er passte ihr ohnehin nicht, und sie dachte wohl, ich würde mich über ihre ausrangierten Sachen freuen.»
«Und hast du dich gefreut?»
«Warum sollte ich dankbar sein müssen? Ein Ring mehr oder weniger bedeutet für sie doch gar nichts. Hier drinnen», Anikas Fingern glitten über die Tresortür, «liegt so viel Schmuck, dass sie kaum mehr weiß, was sie besitzt. Dieser Ring ist doch nur ein Krümel für sie.»
Sie spielte mit dem Zahlenschloss.
«Ich denke, wir lassen besser die Finger von allem», sagte Naomi.
Anika drehte ein paarmal an dem Knopf, doch nichts geschah.
«Ich brauche es nicht zu sehen. Es würde mich doch nur unglücklich machen.»
«Komm, wir hören auf», sagte Naomi. «Ich habe mittlerweile alles gesehen.»
«Noch nicht», sagte Anika.
Sie schob die Wand weg, auf der die Taschen ausgestellt waren. Dahinter, im Schein einer indirekten Beleuchtung, standen ganze Regale voller Schuhe.
«Hierher komme ich ab und zu, wenn es mir zu viel wird», sagte Anika.
«Magst du Schuhe denn so sehr?»
«Nein. Dafür aber die Tatsache, dass ich darin laufen kann und sie nicht.»
Sie zeigte Naomi die Sauna, die Turnhalle, in der Alice ihre physiotherapeutischen Übungen bekam, und als letzte Überraschung zeigte sie ihr das Puppenzimmer. In dessen Mitte stand ein enormes Puppenhaus, und Hunderte von Puppen starrten sie von den Regalen an den Wänden aus an.
«Das war nicht ihre Idee. Opa Babel wollte, dass sie sich wie zu Hause fühlt, als sie nach dem Attentat hier eingezogen ist. Warum er dachte, dass sich eine fast Vierzehnjährige in einem Zimmer voll mit diesen verfluchten Puppen wohlfühlen würde, ist mir schleierhaft. Geschäftlich mag er ja ein großes Genie sein, aber von jungen Mädchen hat er keine Ahnung.»
Читать дальше