«It’s a great huge game of chess that’s being played
– all over the world –
if this is the world at all, you know.»
Through the Looking-Glass, Lewis Carroll
Mein Sohn, ich sehe im Traum,
dass ich dich schlachten soll.
Siebenunddreißigste Sure
Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz
und wie ein Siegel auf deinen Arm.
Denn Liebe ist stark wie der Tod.
Hoheslied 8,6
Wie ein schwarzes Messer glitt die Limousine durch den Verkehr. Die Insassen, geborgen in ihrer voll klimatisierten Welt, achteten kaum auf das Leben, das sich schwitzend durch die Straßen schob. Sie hatten andere Dinge im Kopf. Heute war ein freudiger Tag. Abraham Babel, der Patriarch, war gerade aus dem Krankenhaus entlassen werden. Er musste es ruhig angehen lassen, hatte die Herzattacke allerdings insgesamt gut überstanden. Seine Frau war stumm vor Glück. Denn sie hatte nicht nur ihren Mann wieder, sondern auch ihren verlorenen Sohn, ihren Joseph, der nach jahrelanger Verbannung wieder daheim war und jetzt neben ihr saß. Der kritische Zustand seines Vaters hatte ihn aus Afrika zurückgeholt, und er war nicht allein gekommen. Zwischen ihrer Schwiegertochter und einem Mann vom Sicherheitsdienst saß Alice, die Enkeltochter, die sie erst letzte Woche zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war dankbar, dass ihr das nach all den Jahren des Hoffens vergönnt war. Der Tod hatte sie schon im Maul gehabt und doch wieder ausgespuckt. Heute war alles ein Wunder.
Als das Auto brüsk stoppte, drehte sich ihr Mann irritiert zu dem Fahrer um. Was war das Hindernis? Ein Unfall, der die ganze Straße blockierte? Er fluchte. Sie legte ihm ihre Hand aufs Knie. Was hatten die Ärzte gesagt? Er durfte sich nicht aufregen. Ihr Sohn lächelte bloß. Ihre Enkelin schaute durch die Panzerglasscheiben auf die für Neuankömmlinge so beeindruckende Stadt.
Eine Frau in einem Regenmantel und mit einem Kind auf dem Arm – eine der vielen hundert Bettelnden, die die Stadt zählte – kam auf sie zu. Breit lächelnd blieb sie neben dem Wagen stehen. Joseph öffnete das Seitenfenster. Sein Vater protestierte, doch es war schon zu spät. Die Frau, noch immer mit ihrem Lächeln auf den Lippen, warf das Kind durchs Fenster zu ihnen herein. Ihr Mantel öffnete sich. Sie sahen jetzt alle die um ihren Leib gebundenen Sprengkörper. Auch das Kind war voll davon.
Die Sicherheitsleute reagierten zu spät.
«Schießt! So schießt doch!», rief ihr Mann.
Das Letzte, was sie sah, war der ungläubige Blick auf dem Gesicht ihres Sohnes.
Als die Baupläne für den Turm bekannt wurden, brach ein Sturm von Protesten los. Anwohner sahen ihre Häuser schon unter Bulldozern verschwinden oder befürchteten, für immer im Schatten des immensen Monolithen leben zu müssen. Stadtplaner behaupteten, es gebe noch genügend Büroraum im Zentrum und somit keinerlei Grund, genau dort den höchsten Wolkenkratzer der Welt zu errichten. Architekten wiederum störte der Entwurf. In einer Stadt, die bekannt war für ihre strengen architektonischen Linien, fiel dieses gotische Monstrum mit seinen Wasserspeiern, seinen allegorischen Skulpturen und zinkverkleideten Gesimsen völlig aus dem Rahmen. Mittelständler sahen entgangene Chancen, Naturverbände befürchteten, ganze Vogelschwärme könnten sich an den für sie unsichtbaren Fenstern zu Tode fliegen, und religiöse Gruppierungen versicherten jedem, der es hören wollte, das Gebäude sei ein Dorn im Auge Gottes. Wichtiger noch war die Meinung der Investoren, die eventuelle Terroristen nicht auf katastrophale Gedanken bringen wollten und sich für unauffälligere Projekte entschieden. Bei so viel Gegenwehr schien das Gebäude nicht mehr als eine Fantasie auf Papier oder eine Welle aus Größenwahn zu sein, die an den Klippen des gesunden Menschenverstandes zerschellen musste.
Man vergaß dabei allerdings: Der Auftraggeber war Abraham Babel. Und Babels Wille war Gesetz. Seine Gegner hatten zwar recht und zudem die öffentliche Meinung auf ihrer Seite, aber Babel besaß die Mittel. Bevor sich die Stadt von dem Schock erholt hatte, dass die Baupläne genehmigt worden waren, hatten die Arbeiten bereits begonnen. Im ersten Jahr war es noch ein gigantisches Loch im Erdboden, als ob sich die Arbeiter einen Weg in die Hölle gruben; ein Jahr später bauten sie schon am dreißigsten Stockwerk. Ein derartiges Tempo konnte in dieser Stadt nur eines bedeuten: Geld. Geld, das für die nötigen Genehmigungen sorgte und die Proteststimmen zum Verstummen brachte, Geld, das ganze Busse voll illegaler Arbeitnehmer herbeischaffte, die zwischen den Rippen aus Stahlbeton und unter riesigen Kränen ihr Leben aufs Spiel setzten – unter den Dinosauriern des einundzwanzigsten Jahrhunderts, die triumphierend ihre Herrschaft über die Stadt hinausschrien. Drei Jahre, nachdem der erste Protestmarsch vor das Rathaus gezogen war, um dieser Gotteslästerung Einhalt zu gebieten, war der Turm eine Tatsache. Dreihundertdreißig Stockwerke zählte dieser Gräuel offiziell, aber die Religiösen waren sich sicher, dass es dreihundertdreiunddreißig waren, hinauf und wieder herunter ergab das sechshundertsechsundsechzig Stopps, die Zahl des Tieres. Dies sei überdeutlich das Werk des Teufels, der hier dem Allerhöchsten einen arroganten Finger entgegenstreckte. Zum Glück werde Gott schnell reagieren. Katastrophen würden sich über der Stadt zusammenbrauen, und dann werde man ja sehen. Der Fall des Turms sei eine Frage von Monaten.
Zu ihrem Bedauern war das Gebäude, das offiziell Global Business Building hieß, im Volksmund aber unvermeidlich der Turm von Babel genannt wurde, nach fünf Jahren noch immer nicht vom Erdboden verschluckt. Im Gegenteil, es war zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Der Schatten, den es an sonnigen Tagen über die Stadt warf, wurde zur Sehenswürdigkeit; zu etwas, das die wachsenden Touristenströme zum Staunen brachte und den Städtern, die es bereits gewohnt waren, von dieser riesigen Sonnenuhr zu profitieren, nur mehr ein Achselzucken entlockte. Alle großen Organisationen hatten dort ihren Sitz und die meisten Länder ihre Botschaften. Man fand dort die exklusivsten Geschäfte. Die Leute gönnten sich einen Film in einem der fünf Kinokomplexe des Turms, und zu besonderen Gelegenheiten dinierten sie im City View Restaurant mit der Stadt zu ihren Füßen. Der Handel nahm zu, die Mittelständler in der Umgebung machten goldene Geschäfte, zu vorsichtige Investoren fluchten, Vögel passten ihre Routen an, und die Rache des Allerhöchsten blieb aus. Gott hat alle Zeit der Welt, aber als nach fünf Jahren noch immer keine Risse in der Fassade auftauchten, als keiner der potthässlichen Wasserspeier sich löste, um einen Bus mit Schulkindern unter sich zu zermalmen, und auch nicht ein sich selbst respektierender Geschäftsmann schreiend aus dem Fenster gesprungen war, da wurden die Gegner des Turms ungeduldig.
Aus: Babel, ein Traum von Macht, Thomas Rosen & Aziz al-Kashani
Naomi starrte auf den Turm auf der anderen Straßenseite, der sie erwartete. Vielleicht war es ein Scherz, aber die Baumeister hatten die Fassade des Turms so entworfen, dass sie dem riesigen Kopf eines mythologischen Tieres glich. Die grün getönten Fenster im ersten Stock ergaben die Augen des Monsters, und die vergoldete Drehtür auf Straßenebene war das Maul, in dem die eine Beute nach der anderen verschwand. Manchmal spie das Monster eine verschmähte Beute wieder aus, die dann verstört hinaus ins Freie gewankt kam.
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