«Wolltest du einmal aus dem Fenster schauen?»
«Es tut mir leid», sagte das Mädchen. «Ich bin neu hier. Würden Sie bitte niemandem sagen, dass ich hier war, Frau …?»
Frau! Das war der Gipfel.
«Wie heißt du?»
«Naomi.»
Keine unnütze Anrede diesmal.
«Leg den Schwamm auf den Boden und hilf mir, mich hinzusetzen.»
Das Mädchen zog sie an den Armen nach vorn und schob ihr ein Kissen hinter den Rücken. Sie roch nach Lavendel.
«Wie gefällt dir die Aussicht?», fragte sie.
Genau in diesem Moment schoben sich dicke Wolken vor die Sonne. Ein goldener Balken spielte über der Stadt, ein Laser Gottes auf der Suche nach dem letzten Rechtschaffenen.
«Ich weiß es nicht», sagte das Mädchen.
«Du weißt es nicht?», fragte Alice. «Dann bist du die Erste. Hier ist noch nie jemand gewesen, der nicht sofort von der Aussicht angefangen hätte. Alle finden sie unbezahlbar. Diese Idioten. Natürlich ist sie bezahlbar. Woher sonst sollte Großvater sein Geld nehmen?» Sie redete zu viel, sie hörte es selbst. Das Mädchen starrte sie an.
«Was denkst du?»
«Es ist hoch», sagte das Mädchen.
«Nein, im Ernst? Du befindest dich an der Spitze der Welt, und alles, was dir dazu einfällt, ist, dass es hoch ist? Niemand auf der ganzen Welt befindet sich höher als wir. Ausgenommen natürlich die Passagiere in Flugzeugen.»
«Und Gott», sagte das Mädchen.
Da lag sie also und bekam ungebeten Gott ins Gesicht geschleudert. Sie wusste nicht, warum, aber diese Naomi irritierte sie. Sie gab sich nur wenig Mühe, sich zu entschuldigen, dass sie hier ungebeten stand, sie schämte sich nicht für die Tatsache, dass sie in ihrer Unterwäsche herumlief, sie war nicht beeindruckt von der Aussicht oder von der Situation und noch am wenigsten von dem armen, gelähmten Mädchen in dem Bett. War ihr denn nicht klar, dass Alice sie stehenden Fußes entlassen konnte? Sie brauchte nur mit den Fingern zu schnippen! Es wurde Zeit, dass jemand sie in ihre Schranken wies.
«Würdest du mir einen Gefallen tun, Naomi? Es juckt mich so am Fuß. Würdest du mich da kratzen?»
«Was?»
Sie zeigte auf die Stelle unter ihrer Bettdecke, wo sich ihre Füße befinden mussten.
«Mich juckt es am Fuß.»
Das Mädchen schaute sie an. Wenn Blicke töten könnten!
«Na los. Heb die Decke hoch.»
«Welcher Fuß ist es?»
«Kratz mich einfach an beiden.»
Naomi hob ihren linken Fuß hoch.
«Ist das gut so?»
«Fester», sagte Alice.
«Ist es so besser?»
«Fester!», rief Alice.
Sie betrachtete diesen störrischen Mund, diese Rehaugen, die vor Wut loderten. Ach, dieses Wesen hasste sie, das war klar. Wie schnell waren sie von zwei Mädchen in einem zu großen Zimmer zur Herrin und Dienerin hinabgesunken. Sie hat recht, wenn sie mich hasst, dachte Alice, und ich habe recht, wenn ich sie vor mir knien lasse. Sie hat ihren Gott, aber ich habe das Geld.
Dann ließ das Mädchen ihren Fuß fallen.
«Was ist?», fragte sie.
Naomi hatte Blut an den Händen. Sie hatte so fest gekratzt, dass sie die Haut der Fußsohle verletzt hatte. Das war nicht unnormal, ihre Haut dort war dünn wie Papier. Aber das konnte das Mädchen nicht wissen.
Sie drückte das Bettlaken gegen Alices Fußsohle, und das Blut färbte es sofort rot.
«Es hört nicht auf!»
Sie konnte Naomi beichten, dass sie ohnehin nichts davon spürte, dass sie es noch nicht einmal bemerken würde, wenn ihre Unterschenkel in Flammen stünden. Sie konnte Naomi beruhigen. Aber sie tat es nicht. Sie wusste selbst nicht, was in sie gefahren war.
«Leck es auf», sagte sie.
«Was?»
«Das Blut. Leck es auf!», sagte sie.
Nie im Leben würde sie erklären können, warum sie das verlangte. Warum wollte sie das Mädchen so demütigen? Was hatte die Kleine ihr angetan? Aber Naomi nahm ihren Fuß schon in beide Hände und ließ ohne Flehen oder sonstige Bemerkungen ihre Zunge über die Fußsohle gleiten.
Ein Schock durchfuhr Alice. Es war ein elektrischer Strom, der ihr Rückgrat entlangschoss und kribbelnd bis hinauf in ihre Fingerspitzen, bis in die Dunkelheit unter ihrem Schädel, wo sie für einen Moment kleine Sterne davonsausen sah. Naomi leckte ihr Blut – Blut, das rote Flecken auf ihren Lippen und ihrem Kinn zurückließ, und einen Moment lang dachte sie, was für Krankheiten bekomme ich von diesem Speichel, nein, das dachte sie nicht, das dachte sie erst später, jetzt versuchte sie nur, nicht laut aufzuschreien.
«Was ist denn das hier?»
Bert und Leonard standen im Zimmer. Alice hatte sie noch nie so groß und blond gesehen. Zwei Racheengel.
Naomi ließ ihren Fuß fallen. Die Männer starrten auf das Mädchen in ihrem BH, mit Blut auf den Lippen.
«Wo ist Frau Holtby?», fragte Bert.
«Die hat die Grippe», sagte Alice.
Sie versuchte, gleichgültig dreinzuschauen, aber dieser elektrische Strom wogte noch nach. Als wäre sie bis ins Tiefste ihres Körpers berührt worden. Als hätte Naomis Gott ihr mit Seinem Finger die Eingeweide durchwühlt.
«Ich habe gerade eine der Angestellten gebeten, mir aus dem Bett zu helfen, aber offenbar bluten meine Füße. Zum Glück seid ihr hier.»
Sie bedachte das Mädchen mit einem kurzen Kopfnicken.
«Das ist alles, Naomi. Du kannst gehen.»
Das Mädchen hob den Schwamm vom Boden auf und huschte davon.
Wer ist Abraham Babel?
Woher kam Abraham Babel? Die offizielle Biografie erwähnte eine wenig auffällige Jugend in einem der Stadtviertel, in dem hauptsächlich Beamte und kleine Selbstständige wohnten. Als einziger Sohn von Rebecca und Ezra Babel trug Abraham Babel sämtliche elterlichen Erwartungen auf seinen zarten Schultern. Er hatte sich angestrengt in der Schule, musste dann aber aufgrund einer schleppenden Krankheit, die ihn von seinem siebzehnten bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr ans Bett gefesselt hielt, auf weiteren Unterricht leider verzichten. Diese drei Jahre der erzwungenen Ruhe hatten seine Gier nach dem Leben verschärft, und als er endlich genesen war, beschloss er, keine weitere Zeit auf der Schule zu vergeuden. Er ging arbeiten, zunächst als Verkäufer in einem Geschäft, das hauptsächlich Radios und später die erste Generation von Fernsehgeräten verkaufte. Von seinem ersten Geld kaufte er sich nicht – wie die anderen jungen Männer seiner Umgebung – einen imposanten Buick, sondern Aktien einer großen Elektronikfirma. Nach dem plötzlichen Tod seiner Eltern beschloss er, das elterliche Haus zu vermieten, und landete so fast zufällig im Immobiliensektor, dem er später einen Großteil seines Vermögens zu verdanken haben sollte. Mit dreißig besaß er nicht nur drei Mietshäuser, sondern auch ein interessantes Aktienportefeuille. Nicht schlecht für jemanden, der mit so wenig angefangen hatte. Ein anderer Mann hätte ruhig den einmal eingeschlagenen Weg weiterverfolgt, aber Babel verkaufte seine Häuser und nahm einen großen Kredit auf, um damit ein paar verfallene Gebäude in Hafennähe aufzukaufen. Irgendwann einmal war von einer Hafenerweiterung die Rede gewesen, aber die meisten Spekulanten, die für zu viel Geld die alten Fabriken und bodenverseuchten Grundstücke in der Hoffnung aufgekauft hatten, sich an dem Projekt zu bereichern, waren nach zwanzig Jahren das Warten leid und verkauften ihr wertloses Eigentum nur zu gern an Babel. Er selbst, so ließ er verlauten, habe vor, dort ein Wohnviertel zu errichten. Alle wünschten ihm viel Erfolg. Niemand glaubte an die Zukunft eines Viertels, das mitten im kriminellen Herzen dieser Stadt lag, aber niemand fühlte sich verpflichtet, diese Zweifel mit dem naiven Babel zu teilen. Noch bevor die Vorbereitungen für das Wohnviertel starteten, beschloss ein neuer Bürgermeister, die alten, schon eingestaubten Pläne für die Hafenerweiterung wieder hervorzuholen. Kurzfristig würde das eine Stange Geld kosten, aber langfristig käme es der Stadt eindeutig zugute.
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