Meistens war sie erleichtert, wenn sie die vertraute Umgebung wiedererkannte. Aber heute fühlte sich das Zimmer fremd an. Bestimmt kam es daher, weil ihre Routine durcheinandergebracht war. An anderen Tagen blieb ihr morgens kaum Zeit, den letzten Zipfel ihres Croissants hinunterzuwürgen, bevor Betty und Anika bereitstanden, um sie zu waschen, schnellschnell, denn jeden Augenblick konnte die alte Frau Holtby mit einer neuen Ladung Unterrichtsstoff ins Zimmer treten, noch bevor Bert und Leonard sie für ihre Übungen holen kamen.
Aber Frau Holtby war krank. Das hatte sie gestern von einer überarbeiteten Anika vernommen, die nicht wusste, wo ihr der Kopf stand, nachdem die Grippe jetzt auch Betty und den Großteil des A-Personals niedergestreckt hatte. Keinen Unterricht? Das musste sie ausnutzen. Sie würde den ganzen Morgen im Bett bleiben.
Ihr Blick folgte einem dünnen Sonnenstrahl, der durch die Vorhänge gedrungen war und jetzt über das Parkett kroch; ein goldener Finger aus Licht und tanzendem Staub.
Die Routine, die sie wie eine eiserne Lunge umschloss, war das Werk ihres Großvaters. Er wollte vermeiden, dass sie in düstere Gedanken verfiel. Als ob die sich zurückhalten ließen. Sie war gefangen in ihrem Körper, einem Klumpen Fleisch, der von anderen gewaschen und angekleidet werden musste.
Alle taten so, als ob sie noch eine Zukunft hätte. Holtby bereitete sie auf die Universität vor. Dachten sie denn wirklich, sie käme mitsamt ihrem Bett in den Hörsaal gefahren? Auf beiden Füßen oder gar nicht, Großvater!
Ja, ihren Großvater, den hatte sie noch. Sein Geld und seine Liebe hielten sie am Leben – und seine Trauer, die auch die ihre war und über die sie nie sprachen. Er war der letzte Faden, mit dem sie noch am Leben hing. Wenn er verschwand, dann würde sie zusammen mit dem herrenlosen Müll in den gleichgültigen Straßen verwehen. Er war der Grund, weshalb sie nicht aufgab, weshalb sie sich zusammen mit Holtby über die Broschüren der verschiedenen Universitäten beugte und Tag für Tag die Physiotherapeuten an ihrem Leib herummurksen ließ.
Aber heute genügte auch er nicht, um weiterzumachen. Sie hätte umkommen sollen, zusammen mit ihren Eltern. Dieses Leben war ein Aufschub. Die Monate der Rehabilitation, die Operationen, die Routine, der Anschein von Normalität, es war nichts mehr als Wassertreten. Es wurde Zeit, dass sie der Wahrheit ins Auge blickte.
Ihre Finger glitten über das Kontrollpanel auf der rechten Seite ihres Betts, und die Vorhänge schoben sich zur Seite. Die bleichen Gebeine des gigantischen Walskeletts, das die Hälfte des Zimmers füllte, schimmerten im Sonnenlicht. Wurde es nicht Zeit, dass sie es irgendeinem Museum schenkte? Es war eine Laune gewesen, und wie alle Launen hatte es seine Magie verloren, nachdem ihr stattgegeben worden war. Es stand im Weg und es irritierte Anika. Sie fuhr das Bett dorthin, bis sie wie ein fauler Jona im Bauch des Walfischs lag. Könnte er sie nur bis in die eiskalten Polarmeere mitnehmen, wo seltsame, fluoreszierende Wesen zur Seite hin wegschossen, während er bis zum Boden tauchte!
Es war ein Trost zu wissen, dass irgendwo auf der Welt derartige magische Wesen existierten, auch wenn sie sie nie mit eigenen Augen würde sehen können.
Nein, sie würde das Skelett noch eine Weile stehen lassen.
Sie fuhr weiter bis zu den Fenstern und blickte über die Stadt. Wenn man Großvater glauben konnte, dann war das da draußen ein Dschungel.
Sie sah kein Grün. Es war ein Wald aus Wolkenkratzern mit Hubschraubern wie exotischen Libellen und ganz unten im Schatten der Gebäude einem unablässigen Strom von Ameisen in sämtlichen Farben.
Babel war der Waldriese. Die anderen Bauten zitterten in seinem Schatten. Sie und ihr Bett befanden sich an der höchsten Stelle in dieser Stadt. Ihr Haar würde niemals den Fuß des Turmes berühren, und wenn sie es tausend Jahre hindurch wachsen ließ.
Falls überhaupt ein Prinz dort unten auf sie wartete – und mit einem, der sich mit einer gelähmten Prinzessin zufriedengab, wäre es wohl auch nicht weit her –, dann würde sie ihn nicht einmal sehen, denn aus dieser Höhe konnte man kaum eine Bewegung am Boden unterscheiden. Für die Bewohner des Turms war das ein Bonus. Sie brauchten den schlechten Atem und den Schweiß des Pöbels nicht zu riechen, die lahmenden Beine, die fingerlosen Hände, die Geschwüre und Beulen, die billige synthetische Kleidung, die Löcher in ihren Hosen und ihren Seelen nicht zu sehen. Die Apartments des Turms waren nicht deshalb begehrt, weil man näher bei den Göttern wohnte, sondern lediglich weiter weg von den anderen war, die das Unglück besaßen, nicht in Babel zu residieren.
Alice hätte mit jedem von ihnen tauschen mögen, sämtliche Beulen eingeschlossen. Die Eigentümer der Beine, die dort durch die Straßen gingen, machten sich nicht klar, wie glücklich sie waren.
Sie fuhr das Bett zurück zur Wand. Sie brauchte die Stadt nicht zu sehen. Der Glanz des Meeres in der Ferne genügte ihr. Von hier aus konnte man beobachten, dass der Horizont keine gerade Linie, sondern ein Bogen war. Die Erde war nicht flach, was immer die alten Bücher auch behaupteten. Kein Wunder, dass die religiösen Irren den Turm weghaben wollten. Er kratzte an ihrem Weltbild.
Ein Vogel schoss vor das Fenster. Ein Schatten, ein Bündel Federn, ein Auge, ein Schnabel; dann war er wieder weg. Sie sah ihn etwas weiter entfernt mühelos auf dem Wind gleiten. Die launischen Böen zwischen den Wolkenkratzern kümmerten ihn nicht. Er war eines der vielen wilden Tiere, die immer öfter in der Stadt auftauchten. Wohin sollten sie sonst, nachdem die Stadt die Natur verdrängt hatte? Hasen und Wildschweine suchten genau wie die anderen Wohnungslosen ihr Heil in den Straßen, Hirsche kauten an Müllsäcken, Füchse stritten sich mit zahnlosen Alkoholkranken um irgendwelche Hühnerknochenreste, Falken lebten von den verwilderten Tauben, Dachse gruben sich Burgen in Abwasserkanäle, und die Wölfe hatten schon bald gelernt, aufrecht zu gehen.
Der Vogel schwebte da immer noch. Sie wusste nicht, wie er das machte, aber plötzlich stand er still, eine Stecknadel in diesem blauen Himmel. Sie hielt den Atem an. Sie hätte ihn gern so festgehalten, reglos, die Nabe des Himmels. Solange er dort hing, stand die Zeit still.
Er blieb hängen, bis sie blinzeln musste und ein Zittern ihn durchfuhr. Er tauchte, riss einen Streif in den Himmel, und die Stadt kam in Bewegung. Autos schossen vorwärts, Lichter sprangen an, und irgendwo tief unten erklang der Schrei eines Hasen in Todesangst.
Da erst bemerkte sie das Mädchen, das in ihrem Zimmer stand. Es war unmöglich, dass eine Unbekannte bis in ihr Zimmer vordrang. Sie wurde besser bewacht als das Gold in der Nationalbank. Aber egal ob unmöglich oder nicht, da stand dennoch ein Mädchen, und außerdem auch noch in einem weißen BH, und starrte nach draußen, wo ihr die Stadt in all ihrer Herrlichkeit zu Füßen lag.
Das Mädchen hatte sie eindeutig noch nicht bemerkt, so fasziniert war sie von der Aussicht.
Alice griff nach dem Kontrollpanel, bereit, den Wachdienst zu alarmieren.
«Wie gefällt dir der Ausblick?», fragte sie.
Das Mädchen erschrak und drehte sich um.
«Kommst du, um mich umzubringen?»
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
«Schön. Damit wäre das schon mal abgehakt.»
Das Mädchen schien etwas älter als sie selbst zu sein. Ihr langer, schwarzer Zopf lag ihr wie eine Schlange im Nacken.
«Was hast du hier zu suchen?»
Es klang unfreundlicher, als sie es beabsichtigt hatte. Sie wusste, was das Mädchen hier tat. Der Schwamm in ihrer Hand verriet einiges. Die Grippeepidemie erklärte den Rest. Dieses Mädchen war die Vertretung der Putzhilfe. Darauf hätte sie auch sofort kommen können, aber in ihrer Überraschung hatte sie nicht nachgedacht. Sie hatte keine Ahnung, warum das Mädchen hier in ihrem BH herumlief, aber vielleicht konnte Hans ihr das erklären. Er hatte so seine eigenen Methoden, das weibliche Personal zu kontrollieren. Wahrscheinlich war sie, des Putzens überdrüssig, auf Erkundung ausgegangen. Welches Mädchen konnte einer geschlossenen Tür widerstehen? Aber schlau war es nicht. Prynne war recht unsanft zu Personal, das Eigeninitiativen entwickelte.
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