Sie waren keine drei Straßen mehr vom Turm entfernt – die Limousine brummte ungeduldig im Stau –, als die junge Frau auf sie zukam und Joe trotz des Protests seines Vaters das Fenster herunterließ.
Anna sah die Bombe an ihrem Körper als Erste und schrie.
Babel warf sich über Alice.
Joe verstand noch immer nicht, was Sache war, als die Explosion die Limousine in Stücke zerriss. Kurz darauf fielen die Körperteile aus dem Himmel.
Joe war tot. Seine Frau war tot. Anna war tot. Alice blieb gelähmt, nachdem sie aus dem Auto geschleudert worden und mit einem Knall auf dem Beton gelandet war. Und Babel, der Mann, der schon sein ganzes Leben lang den Finger Gottes auf sich hatte lasten fühlen, kam mit einigen blauen Flecken und einem zweiten Herzanfall davon.
Seine Strafe war es, das Attentat überleben und begreifen zu müssen, was er verloren hatte.
Er zog sich zurück in seinen Turm, legte sich eine kleine Privatarmee zu und verließ kaum mehr seine gesicherte Festung. Der Einsiedler des Turms von Babel war geboren.
Aus: Babel, ein Traum von Macht, Thomas Rosen & Aziz al-Kashani
Naomi war unterwegs zu einem weiteren Badezimmer, als sie jemanden schreien hörte. Es kam aus der Schwimmhalle. Sie ließ ihr Putzzeug fallen und rannte durch die Flure. Im Schwimmbecken sah sie zwei Männer im Wasser. Es waren dieselben, die eine halbe Stunde zuvor plötzlich im Schlafzimmer von Alice Babel gestanden hatten. Einer von ihnen schlug wie wild um sich, als würden Elektroschocks seinen Körper durchzucken. Der andere Mann versuchte, ihn über Wasser zu halten. Er war es, der schrie, der Naomi bemerkte und sie anflehte, ihm zu helfen, den Mann an den Rand zu ziehen, bevor es zu spät war. Aber etwas weiter im Becken strampelte Alice Babel. Sie hielt sich noch über Wasser, konnte aber jeden Moment untergehen.
Naomi sprang in das Becken und schwamm zu dem Mädchen, das in diesem Moment ganz unter Wasser geriet. Alice schlang in Panik beide Arme um Naomis Hals. Es war eine würgende Umarmung, ein totes Gewicht, das sie nach unten zog. Naomi versuchte, sie beide über Wasser zu halten, aber sie sanken, und das Geschrei des Mannes verschwand in der Unterwasserstille.
Naomi konnte sich nicht von den Armen befreien, wie sehr sie auch zerrte. «Lass los!», rief sie. Ein Vorhang aus Luftblasen schob sich zwischen sie. Sie berührten den Boden. Einen Augenblick lang blieben sie stehen – Partnerinnen in einem zu intimen Tanz. Dann sank Alice in die Knie und zog Naomi noch weiter hinab. Naomi biss so fest sie konnte in den Arm, der sie erstickte. Alice ließ los. Naomi schoss nach oben, brach durch die Wasseroberfläche und schlang die Luft in sich hinein. Das Schwimmbad hallte immer noch von dem Geschrei des Mannes wider. Sie saugte ihre Lungen voll und tauchte wieder hinab. Alice lag auf dem Boden, die Arme ausgestreckt und die Beine gekreuzt, als läge sie auf einer Wiese und würde zum Wolkenhimmel aufschauen. Ihre Augen waren geschlossen.
Naomi fasste sie bei den Haaren und zerrte sie nach oben. Mit allerletzter Kraft erreichte sie den Rand. Sie schlang ihren Arm um Alices Taille und zog sich Zentimeter für Zentimeter weiter am Rand entlang, bis sie zu der Treppe kam.
«Leg die Arme um mich», rief sie.
Aber das Mädchen bewegte sich nicht.
Naomi schürfte sich die Knie auf, während sie Stufe um Stufe weiterkroch. Sie schleppte Alice weiter, bis sie beide am Rand des Schwimmbeckens lagen. Auf der anderen Seite vollzog sich ein gleichartiges Ringen. Der Mann schrie noch immer um Hilfe, aber Naomi sah nur das kalte, weiße Gesicht von Alice. Atmete sie noch? Sie rappelte sich hoch und beugte sich über sie, aber in diesem Moment flogen die Türen zur Schwimmhalle auf. Vier Wachleute kamen auf sie zu gerannt und schubsten sie unsanft zur Seite.
Hans kniete neben dem Mädchen und drückte auf ihren Kiefer, bis sich ihr Mund öffnete. Seine nikotingelben Finger verschwanden zwischen ihren Lippen. Ein anderer Wachmann zog Naomi auf die Füße. Noch mehr Leute kamen ins Schwimmbad gerannt und sprachen in unsichtbare Mikrofone. Schon bald war Alice in einer Gruppe breitschultriger Männer verschwunden.
Jemand legte ihr eine Hand auf die Schulter. Prynne.
«Geh in eines der Gästezimmer und bleib dort. Los, wir können hier keinen zusätzlichen Trubel gebrauchen!»
Auf der anderen Seite des Schwimmbeckens hämmerte der Mann auf die breite Brust seines Kollegen. «Leonard! Leonard!», schrie er wieder und wieder. Naomi sah noch, wie die Lippen des einen Mannes die kalten Lippen des anderen fanden, dann wurde sie von Prynne aus der Schwimmhalle geschoben.
Sie stieg gerade aus ihrem nassen Rock, als Hans ins Zimmer trat. Schnell zog sie ein Bettlaken über sich.
«Du hast nichts gesehen und nichts gehört. Was du gerade gesehen hast, ist nicht passiert. Verstanden?»
«Lebt sie noch?»
«So besorgt um deine Arbeitgeberin. Das ehrt dich. Und was dich auch ziert, ist dieses Laken. Ich an deiner Stelle würde es nicht zu eng an mich ziehen. Dein nasser Leib lässt nicht mehr viel Platz für die Fantasie. Männer mit weniger Selbstdisziplin könnten dadurch auf dumme Gedanken kommen.»
Er kam auf sie zu. Sie schrak zurück, rutschte an der Wand entlang, bis ihr ein Schränkchen den Weg versperrte. Mit ihrer freien Hand ergriff sie einen Kerzenleuchter.
«Was hast du vor? Du wirst doch nicht den Wachdienst von Babel angreifen, Mädchen?»
«Hans!»
Frau Prynne stand in der Türöffnung.
«Was ist hier los?»
«Ich habe der neuen Putzhilfe gerade erzählt, dass sie besser nicht herumposaunt, was sie gesehen hat. Aus Sicherheitsgründen», sagte Hans.
«Der Putzdienst fällt unter meine Verantwortung. Deine Verantwortung ist es zu überprüfen, warum es so lange dauern musste, bis Hilfe aufgetaucht ist. Es gibt doch keinen faulen Apfel im Korb, Hans?»
«Ich habe die Männer des Wachdienstes eigenhändig ausgesucht und ausgebildet, Hilda.»
«Dann bleibt mir nur der Schluss, dass es irgendwo an der Auswahl oder Ausbildung hapert, Hans.»
Er wollte etwas sagen, verkniff es sich dann aber, knallte die Hacken zusammen, verbeugte sich andeutungsweise vor Naomi und Prynne und verließ das Zimmer.
Die Frauen schauten ihm kurz hinterher. Naomi stellte den Leuchter zurück auf einen Beistelltisch.
«Ist alles in Ordnung, Frau Prynne?», fragte sie. «Lebt sie noch?»
«Fräulein Alice lebt noch. Sie wird jetzt für weitere Untersuchungen ins Krankenhaus gebracht. Hans hat recht: Es ist besser, wenn möglichst wenig Leute wissen, dass sie nicht im Turm ist. Wir können sie im Krankenhaus nicht so gründlich bewachen wie hier, und wir wollen niemanden auf dumme Gedanken bringen.»
«Ich habe nichts gesehen», sagte Naomi.
«Sehr gut», sagte Frau Prynne. «Du lernst schnell. Ich freue mich, dass ich auf deine Diskretion zählen kann. Was hältst du davon, nach der Vertretung hier in der Logistik zu arbeiten? Jemand mit deinen Qualitäten und schnellen Reaktionen ist auf Sub-Niveau nicht an seinem Platz. Ich denke, du hast da unten schon alles gelernt, was es zu lernen gibt, und gehe davon aus, du wirst nicht traurig sein, die nassen Matratzen und Lisbeths hinter dir zu lassen. Was? Guck nicht so erstaunt. Glaubst du, ich weiß nicht, was sich in den Schlafsälen abspielt? Nicht dass es mich irgendwie kümmert, solange die Arbeit nicht darunter leidet.»
«Vielen Dank», sagte Naomi.
Das Fenster des Gästezimmers bebte. Ein Helikopter flog vorbei. Sie schauten der Maschine nach, bis sie über die Spitzen des Wolkenkratzers hinweg verschwand.
«Ich schicke Anika mit trockenen Sachen», sagte Prynne dann und verließ den Raum.
Naomi schaute noch immer durchs Fenster, als eine junge Frau mit einem Stapel trockener Kleidung hereinkam.
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