1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Nichts war schmutzig. Da war nicht ein Fleck auf den Spiegeln, nicht ein Streifen in den Waschbecken. Naomi legte sich auf den Boden des Badezimmers, presste eine Wange auf die Fliesen, sodass sie jede Unebenheit auf dem Fußboden bemerkt hätte, und immer noch sah sie nirgendwo eine Fluse oder ein Stäubchen.
Sie knotete ihre Schuhe auf und kroch barfuß in die Riesenmuschel. Der Marmor fühlte sich kühl an. Sie schrubbte, nicht weil sie plötzlich von Menschen hinterlassene Spuren gefunden hätte, sondern weil sie davon ausging, dass Prynne sie kontrollieren würde. Ihr wurde heiß. Sie zog ihr Shirt aus und hängte es auf einen Handtuchhalter. Nach einer halben Stunde war sie mit dem Badezimmer fertig. Fünfzig Minuten zu früh.
Sie betrachtete sich im Spiegel. Sie zog die Lippen hoch, klapperte mit den Zähnen und bedachte sich selbst mit einem Augenzwinkern. Naomi. Mitten im Turm von Babel.
Im Spiegel sah sie, wie sich die Türklinke bewegte. Die Tür ging auf. Es war nicht Prynne.
«Warum solche Angst?»
Lichtenstern glitt ins Zimmer, setzte sich auf die Marmorplatte des Waschtischs und besah sich im Spiegel.
«Ich bin ordentlich rasiert. Von meinen Zähnen tropft kein Blut. Ich sehe nicht ein, weshalb du dich erschrecken solltest.»
Er musterte sich weiter im Spiegel.
«Oder ist dieser Anzug zu förmlich? Besonders, wenn ich sehe, wie bequem du gekleidet bist.»
Über seine Schulter hinweg sah sie sich selbst im Spiegel, ohne Shirt, nur mit BH. Sie legte die Hand über ihre Brüste.
«Komm, nicht so bescheiden. Wie heißt es in der Bibel? Ein Mensch darf seine Talente nicht begraben.»
«Was kann ich für Sie tun, Herr Lichtenstern?»
«Setz dich. Du machst mich nervös mit diesem Blick wie von einem in die Enge getriebenen Stück Wild. Ich tue dir nichts. Ich brauche eine Frau nicht zu zwingen. Die Arbeitnehmerinnen von Babel stehen Schlange, um mir jede Annehmlichkeit zu bieten.»
«Dann würde ich sie nicht länger warten lassen», sagte Naomi.
Seine Augenbraue wanderte in die Höhe.
«Möchtest du denn nicht von dieser einmaligen Gelegenheit profitieren? Du brauchst keine Angst zu haben, Prynne könnte hier jeden Moment eindringen. Wir werden von niemandem gestört werden. Du kannst so laut schreien, wie du willst.»
Er fuhr sich mit beiden Zeigefingern über die Lippen.
«Nicht zu trocken. Nicht zu feucht. Genau richtig.»
Er drehte sich vom Spiegel weg und schaute sie an. Den einen Arm noch immer vor ihren Brüsten, machte sie einen Schritt zurück, bis ihr Rücken die Badezimmerwand berührte. Mit ihrer freien Hand griff sie nach der Handbrause.
«Was hast du vor? Mich nass sprühen, bis ich schmelze?»
«Ich muss weiter mit meiner Arbeit, Herr Lichtenstern.»
Er kam auf sie zu. Der Duschkopf in ihrer Hand zitterte.
«Findest du mich denn nicht anziehend, Naomi? Nein? Du brichst mir das Herz.»
Er grinste.
«Etwas mehr Dankbarkeit hatte ich schon erwartet. Ohne mich wärst du gar nicht hier! Zugegeben, dieser Putzjob ist nur vorübergehend, aber wenn du freundlich zu mir bist, könnte ich für eine dauerhafte Beförderung sorgen. Nicht sofort als A natürlich. Aber alles ist besser, als eine Sub zu bleiben, nicht?»
«Mir gefällt es dort ausgezeichnet», sagte Naomi.
«Findest du mich so abstoßend? Was für ein Schlag für mein Ego! Oder willst du irgendeinem pickligen Teenager treu bleiben, der draußen auf dich wartet? Nein, da ist niemand, ich spüre es. Magst du keine Männer, Naomi? Hast du andere Interessen? Ich denke nicht. Aber du hast Angst vor uns. Warum? Schlechte Erfahrungen?»
Er stand jetzt am Rand der Badewannenmuschel.
«Ich könnte dir sagen, dass nicht alle Männer gleich sind, aber aus meinem Mund würde sich das merkwürdig anhören. Ich weiß, was über mich gesagt wird.»
«Alles gelogen natürlich», sagte Naomi.
«Nicht alles.»
Er setzte sich auf den Rand der Muschel.
«Weißt du, was das Problem ist? Frauen finden, dass ich zu schnell vorgehe. Ich bin genau wie du, Naomi. Direkt. Frauen wollen das nicht. Obwohl ich ihnen damit einen großen Dienst erweise. Ich verzichte gern auf diese ersten Dates, die Verabredungen zum Essen oder fürs Kino, und erst recht auf die langen Gespräche, um sich gegenseitig besser kennenzulernen. Ich gönne Frauen die nötige Distanz. Sie können sein, wer sie sein wollen. Tausende von Frauenrollen können sie annehmen, die eine noch mysteriöser als die andere. Aber nein, mit jeder Frage nach meiner Lieblingsfarbe, mit jedem Aufstoßen ihrer unverdauten Vergangenheit, mit jeder schlechten Erfahrung im Job und mit jeder zutiefst persönlichen Meinung, die sie mit dem Rest der Weltbevölkerung teilen, schrumpfen sie, bis sie weiter nichts mehr sind als ein banales Stück Fleisch, aus dem sich sämtlicher Biss und Geschmack verflüchtigt hat. Ich gebe ihnen Unmengen an Gold und Glamour, und sie geben mir Nachbarschaftsstreitigkeiten und verschlissenes Bettzeug. Das ist kein fairer Tausch.»
Er streckte seine Hand nach ihr aus.
«Bist du eine von ihnen, Naomi? Will du mich auch mit deinen trivialen Träumen und deiner tristen Vergangenheit langweilen? Oder willst du im Hier und Jetzt leben? Den Augenblick genießen, der sich uns bietet?»
Sie berührte seine ausgestreckte Hand nicht.
«Hat diese Ansprache jemals funktioniert?», fragte sie ihn.
Er ließ seine Hand sinken.
«Öfter, als du dir vielleicht vorstellst.»
Er betrachtete seine Fingernägel.
«Du kannst die Brause ruhig zurückhängen. Es muss anstrengend sein, das Ding so lange zu umklammern. Und deinen anderen Arm darfst du auch sinken lassen.»
Naomi bewegte sich nicht.
«Auch gut. Misstrauen über allem.»
Er stand auf und entfernte sich. An der Badezimmertür drehte er sich um.
«Was erwartest du vom Leben, Naomi?»
«In Ruhe gelassen zu werden.»
Er lachte.
«Ein unmöglicher Wunsch. Das Leben lässt einen nicht in Ruhe. Es ist ein wilder Ritt, aus dem man nur auf eine Weise aussteigen kann, und die ist wiederum zu ruhig, selbst für dich.»
«Ich liebe die Ruhe.»
«Dann darfst du aber nicht so aussehen, wie du aussiehst, und nicht so aus den Augen schauen, wie du es tust.»
«Wie denn?»
«Schlummernd. Wie ein Vulkan oder ein Selbstmordterrorist auf dem Weg zu seinem Ziel. Oder wie eine Frau, kurz bevor sie sich über ihre letzten Bedenken hinwegsetzt.»
«Ich bin nichts von alledem.»
«Schade. Das war ein interessantes Gespräch, Naomi. Das Resultat war zwar nicht das, was ich mir erhofft hatte, aber ich freue mich auf unsere nächste Begegnung.»
Die Tür fiel ins Schloss.
Sie wartete eine Viertelstunde, öffnete dann vorsichtig die Badezimmertür und schaute hinaus in den Flur. Alles war ruhig. Keine Prynne und kein Lichtenstern zu sehen. Sie schlich hinaus, und keine maskierten Wachleute kamen auf sie zu gerannt. Vor einer der Türen blieb sie stehen und drückte auf die Klinke. Die Tür war nicht abgeschlossen. Leise schob sie sie einen Spaltbreit auf. Ein weißes Licht fiel auf den Flur. Es dauerte etwas, bis ihr bewusst wurde, was sie sah, und dann trat sie fasziniert in das Zimmer.
Sobald die Frau auftauchte, schwoll die Panik an. Alice wusste, was passieren würde. Sie wollte ihren Vater warnen, aber die Angst ließ sie gefrieren. Sie konnte sie alle retten. Sie brauchte nur ihre Hand auf seinen Arm zu legen, mehr nicht. Aber sie war erstarrt. Gelähmt. Sie wollte schreien, aber ihre Kiefer klemmten.
Sie sah, wie die Frau mit dem Kind in den Armen auf das Auto zukam, wie ihr Vater das Fenster hinunterließ und wie Großvater eine Warnung schrie. Ihr blieb genügend Zeit, alle noch ein letztes Mal anzusehen – die erstaunten Gesichter ihrer Mutter und Großmutter, als sich der Mantel der Frau öffnete. Danach weckte der Lärm der Explosion sie auf, so wie fast jeden Tag.
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