Jan de Leeuw - Babel

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Alice Babel ist das reichste Mädchen der Erde. Von allem Luxus umgeben, aber isoliert und nach einem Terroranschlag gelähmt, lebt sie im obersten Stockwerk des weltweit höchsten Gebäudes
und blickt auf den riesigen Stadtdschungel tief unter ihr, in dem die Menschen wie Ameisen herumwuseln. Da taucht plötzlich die undurchschaubare gleichaltrige Naomi bei ihr auf und bringt neues
Leben mit sich – aber auch neue Gefahren … Können sich die beiden in einer rätselhaften Welt von silbernen Schlangen, Tarotkarten, verlorenen Existenzen und religiösen Fanatikern nahekommen?
Der preisgekrönte Jugendbuchautor Jan de Leeuw zeichnet in «Babel» die Zerrissenheit und Vielstimmigkeit unserer modernen Welt nach – ein atemberaubender, symbolisch aufgeladener Roman von Macht und Hybris, Unterdrückung und Verrat und der zarten Suche nach Freundschaft.

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«Meine Mutter?»

«Ich habe es gehört.»

«Die ganze Welt hat es gehört.»

«Entschuldige.»

Naomi zuckte mit den Schultern. Er zeigte auf ihr Shirt.

«Jetzt arbeitest du bei Babel.»

Sie zog ihre Jacke zu.

«Schon gut. Ich brauche nichts zu wissen. Ich habe andere Dinge um die Ohren.»

«Warum waren sie hinter dir her?»

Der Junge zog eine Jeanshose unter seinem Pulli hervor.

«Geklaut?»

«Ja, ich bin ein Dieb geworden. Warum nicht? Der Mensch muss leben, und Klauen ist die geringste meiner Sünden. Du bist nicht schockiert?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Lass mich raten: Es geht dich nichts an.»

Sie lächelte.

«Was für eine interessante Art, das Leben zu betrachten. Hätte ich das früher gewusst, dann hätte ich dir mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Aus uns hätte ein schönes Paar werden können.»

Sie runzelte die Stirn.

«Nein? Nein, du hast recht. Es hätte nicht funktioniert. Obwohl ich den Eindruck hatte, dass du nichts lieber wolltest, als den ganzen Kram hinter dir zu lassen.»

Er spuckte die Kerne vor sich aus.

«Hörst du manchmal noch etwas von ihnen?», fragte er, als die Tüte fast leer war. «Von der Familie? Meiner Mutter?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Nichts? Niemand?»

«Und du?», fragte sie.

«Ich? Für sie bin ich tot. Und wenn ich so dumm wäre, zu ihnen zurückzugehen, dann würden sie dafür sorgen, dass ich echt draufgehe.»

«Das würden sie nie tun.»

«Egal. Ich habe jetzt ein neues Leben. Ich bin frei. Werde geliebt. Ja, ich, der dumme Aziz, werde geliebt. Wer hätte das gedacht?»

«Schön für dich.»

Er beugte sich zu ihr und küsste sie auf die Wange, noch bevor sie sich wegdrehen konnte.

«Kann ich irgendwas für dich tun? Gibt es etwas, das ich für dich stehlen kann?»

«Nein, vielen Dank.»

«Weißt du …»

Er riss ein Stück von der Tüte und schrieb mit Kirschsaft eine Adresse darauf.

«Hier. Falls du mich mal brauchst, oder …» Er zögerte. «Falls du irgendwas von meiner Mutter hören solltest. Man weiß ja nie. Dann gib mir Bescheid. Danke für die Kirschen.»

Er rannte davon.

Sie wartete nicht auf den Schatten des Turms, bevor sie den Park verließ.

Naomi arbeitete schon lange genug in Babel, um gleich beim Aufwachen zu wissen, dass etwas Ungewöhnliches in der Luft hing. An anderen Tagen stolperten alle gleichzeitig zu den Waschräumen, aber diesmal blieben die Mädchen in ihren Betten liegen. Lisbeth, die halb betäubt aus dem Bett gekrochen war, blieb mitten im Saal stehen und blickte um sich. Warum folgten die anderen Subs nicht?

Naomi schaute zu Deborah. Die war zu still, zu achtlos.

«Maria, was tust du, wenn du deine Familie vermisst?», fragte Deborah.

«Dann frage ich Prynne, ob ich sie anrufen darf.»

«Und du, Naomi, was tust du?»

Deborah sagte nicht «Neue», sondern «Naomi.» Zu freundlich.

Naomi warf die Bettdecke von sich ab.

«Ich kann mich erinnern, wie schwer ich es hatte, als ich gerade hier anfing», sagte Deborah zu niemanden im Besonderen. «Ich vermisste meine Familie enorm. Manchmal hatte ich Angst, ich könnte vergessen, wie sie aussahen. Zum Glück hatte ich Fotos von ihnen. Fotos können eine enorme Stütze sein, nicht wahr, Naomi?»

«Vielleicht», sagte Naomi.

«Natürlich hast du als Waise solche Probleme nicht. Du brauchst keine Fotos mit dir herumzuschleppen, denn sie sind ohnehin alle tot. Du bist eine der Glücklichen, hab’ ich recht, Naomi?»

«Glücklich genug, keine Zeit mit offenbar endlosen Grübeleien zu verlieren.»

Sie ging an Lisbeth vorbei, die aus Angst vor dem, was kommen würde, noch wie erstarrt im Schlafsaal stand.

«So glücklich, nicht abhängig von Fotos wie diesem zu sein», sagte Deborah.

Naomi drehte sich um. Deborah hatte ein Foto in der Hand.

«Das habe ich in deinem Koffer gefunden. Im Futter versteckt. Vermutlich von einem früheren Besitzer des Koffers. Oder bedeutet dieses Foto dir etwas, Naomi?»

Deborah hielt das Foto in die Höhe und zeigte es den anderen Mädchen. Auf ihm war eine junge Frau zu sehen, die Haare unter einem stramm über die Stirn gebundenen Schal verborgen. Sie hatte die Armen um die Schultern von zwei Mädchen gelegt. Das jüngere Mädchen, ein Kind noch, war etwas dunkler als die Frau, aber dennoch deutlich ihre Tochter. Das andere Mädchen war ungefähr zwölf Jahre alt. Sie war blass, so als sähe sie selten die Sonne. Mutter und jüngere Tochter lachten. Die ältere Tochter schaute ernst. Es war unverkennbar eine junge Naomi.

«Das ist doch kein Foto von deiner Familie, Naomi? Nein? Arme Naomi. Die, ohne es zu wissen, ein Foto von einer glücklichen Familie mit sich herumschleppt. Nun, dafür habe ich eine Lösung.»

Deborah zog ein Feuerzeug hervor. «Oder hättest du das Foto gern wieder, Naomi? Dann komm und hol es dir.»

Naomi bewegte sich nicht. Es war Lisbeth, die zum Erstaunen aller auf Deborah zulief.

«Gib das Foto zurück, Deborah. Es gehört dir nicht.»

«Sieh an! Der Hund bellt.»

Die anderen Mädchen lachten.

«Pfeif sie zurück, Naomi, oder das Foto geht in Flammen auf.»

Alle schauten jetzt auf Naomi. Was würde sie tun? Ein Flämmchen flackerte über dem Feuerzeug, nah an einer Ecke des Fotos.

«Eine kleine Entschuldigung genügt, Naomi. Mehr nicht. Dann bekommst du es zurück.»

«Tu, was du nicht lassen kannst», sagte Naomi. Sie drehte sich um und ging zu den Duschen. Sie hatte den Saal noch nicht verlassen, da kroch ihr der Geruch von verbranntem Fotopapier schon in die Nase.

Sie blieb länger als sonst unter der Dusche. Sie fühlte, wie ihr die Tropfen über die Wangen rannen.

«Das zahlen wir ihr heim», sagte Lisbeth am Nachmittag, als sie die Aufzüge putzten, in sicherer Entfernung von Maria und Rosario, die mit den Aufzügen am anderen Ende des Flurs angefangen hatten.

«Lass gut sein», sagte Naomi, «sie hat mir einen Dienst erwiesen.»

Lisbeth schaute sie verwundert an.

«Ist doch egal, ob sie dir damit einen Dienst erwiesen hat. Sie wollte dir wehtun.»

«Ich kann ihr nicht immer mit Prynne drohen. Sie ist schlau genug, die Sachen, die sie uns gestohlen hat, nicht mehr in ihrem Spind aufzubewahren.»

«Ich kann mit Betty reden.»

«Mit Betty?»

Es war das erste Mal seit dem Zwischenfall mit der Suppe, dass Lisbeth diesen Namen fallenließ.

«Ja, sie ist wieder unten.»

«Sie ist kein A mehr?»

«Doch. Aber sie ist krank. Da oben ist eine Grippeepidemie ausgebrochen, und alle, die krank sind, werden sofort weggeschickt, damit sie den alten Mann und seine Enkelin nicht anstecken.»

«Steht Immunität vor der Grippe denn nicht in seinem Pakt mit dem Teufel?»

«Lach du nur; das kann unsere Chance sein, uns Betty zu nähern. Ihr Zimmer befindet sich in dem Stockwerk über uns. Wir können sie ganz einfach besuchen. Außer dem Arzt sieht sie nicht viele Leute. Sie hat sich nämlich nicht viele Freunde gemacht, seit sie eine A ist.»

«Wie könnte sie uns denn helfen?»

«Ein Wort von Lichtenstern zu Prynne, und Deborah wird entlassen.»

«Du würdest so weit gehen?»

«Du nicht? Auch nicht nach der Sache mit dem Foto?»

«Wird Betty sich nicht wundern, wenn wir vorbeikommen?»

«Sie wird sich über ein bekanntes Gesicht freuen.»

«Ich bin kein bekanntes Gesicht.»

«Wir sind ein Team», sagte Lisbeth und fasste Naomi am Arm. «Mitgefangen, mitgehangen.»

«Es wäre einen Versuch wert», sagte Naomi. Vorsichtig zog sie ihren Arm zurück. In diesem Moment schoss der Fahrstuhl nach oben.

«Merkwürdig», sagte Lisbeth. «Wir hatten noch ein paar Minuten.»

«Wenn er weg ist, brauchen wir ihn auch nicht zu putzen», sagte Naomi. «Wenn wir uns ranhalten, ist dieser Aufzug in fünf Minuten fertig, und wir können zu Betty.»

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