„Chommen Sie, Chäsy, heute habe ich etwas für Sie!“ pflegte sie manchmal zu sagen und steckte ihm schnell ein paar Quargel oder einen besonders würzigen Romadur in die Tasche. Ach ja, von Käse verstand er etwas. Anders war es mit dem Genever, an den mußte er sich erst gewöhnen.
Podesta behauptete, daß er gut sei, und Schmidbruch pflichtete ihm bei. Was blieb ihm da schon anderes übrig, als ihn ebenfalls zu loben. Er roch daran und sagte: „Wirklich vortrefflich!“
„Trinken Sie, trinken Sie, so können Sie noch gar nichts sagen.“
Was blieb ihm anderes übrig, er nahm sein Glas und trank es aus. Als er es wieder vor sich hinstellte, wußte er genau, daß er die Grenzen seiner Selbstkontrolle damit endgültig überschritten hatte. Das einzige, was er in jene unbekannten Räume, in die er nunmehr hineintorkelte, mitnahm, war eine Art innerer Befehl, sich aufrecht zu halten, sich aufmerksam zu stellen und sich so wenig als möglich von seinem wahren Zustand anmerken zu lassen. Ach, er wußte genau, was Podesta alles erzählte, er verstand jedes Wort, aber er war total unfähig geworden, sich mit Podesta oder Schmidbruch darüber in ein Gespräch einzulassen. Er registrierte gleichsam nur, was Podesta da alles zu erzählen wußte, und schrieb auf einen Bogen Packpapier: Zurückkommend auf Ihr wertes Angebot …
Von fern her hörte er, wie Schmidbruch zu Podesta sagte: „Ein Hochzeitsessen!“, und jener merkwürdigerweise antwortete: „Man muß die Feste feiern, wie sie fallen.“
Dann gratulierte ihm Frau Bütschli zu seiner Ernennung zum Oberbuchhalter bei der ISAG, sie erzählte ihm auch von einer neuen Chäsesorte, er hörte ihr aufmerksam zu und sagte mehrmals: „Interessant, interessant …“
„Schweinefraß!“
„Haha, das würde unseren Geldscheißer wenig freuen.“
„Nicht zum Fressen.“
„Spaß muß sein.“
„Schweinefraß!“
Zischelnd flogen die Worte hin und her. Flogen wie Weberschiffchen hin und her, die in ein schwarzes Tuch gelbgrüne Nesselfäden schossen. „Fressen kannst du ja schon, jetzt mußt du nur noch anständig reden lernen.“
„Schweinefraß!“
„Halts Maul!“
Podesta hatte mit seiner rechten Hand eine schnelle Bewegung am Rücken der vor ihm an einem vollgedeckten Tisch sitzenden Frau gemacht. Eine Bewegung, als drücke er auf einen Knopf. Und als hätte er wirklich auf einen Knopf gedrückt, mit dem er ihr Mundwerk abschalten konnte, so plötzlich schwieg sie nun.
Podesta, beide Hände in die Tasche seines schmutzigweißen Arbeitsmantels gesteckt, blieb unbeweglich hinter ihr stehen und beobachtete sie mit einem Ausdruck von Selbstzufriedenheit und Erwartung in seinem feisten, schlecht rasierten Gesicht. Er schickte einen triumphierenden Blick in die Runde, als hätte er Reihen voll unsichtbarer, ihn bewundernder Zuschauer vor sich und nicht ein mit allerlei altmodischem Mobiliar vollgestopftes Zimmer. Sein Blick blieb an dem hellbraunen Pianino, das rechts neben ihm an der Wand stand, haften. Er überlegte kurz und ging dann mit schnellen Schritten darauf zu, setzte sich nieder, klappte mit einer großen Geste den Deckel auf und spielte den Enthusiastenmarsch. Sie aber schien sich um ihn überhaupt nicht zu kümmern. Ihre Aufmerksamkeit hatte sich ganz auf den Tisch mit den vor ihr stehenden Speisen zugewandt. Mit großem Vergnügen hob sie ein Bratenstück nach dem anderen auf ihren Teller, zerlegte es mit liebevoller Umständlichkeit und aß es auf. Podesta hatte zu spielen aufgehört. Er hatte sich herumgedreht und sah ihr zu. Je länger er ihr so beim Essen zuschaute, um so mehr bekam er Lust, selbst auch etwas zu essen.
„Zuschauen ist zuwenig“, murmelte er vor sich hin und holte sich von ihrem Tablett ein Bratenstück herunter, das er auf einmal in seinen Mund stopfte und kauend und schmatzend verschlang.
„Gut“, sagte er, nahm eine spanische Wand, stellte sie vor die Essende und ging hinaus.
Im Vorzimmer, in dem außer einem Kleiderständer und einem Spiegel keinerlei Einrichtung war, nahm er von dem Kleiderständer einen Hut und eine Aktentasche und wollte sich gerade vor dem Spiegel sein schwarzglänzendes Haar richten, als es klingelte. Betroffen hielt er inne. Dann steckte er seinen Kamm ein, hing Hut und Aktentasche wieder an den Kleiderständer und eilte das lange, schmale Vorzimmer hinauf zur Wohnungstür hin. Auf halbem Weg jedoch kehrte er wieder um, hastete zurück und schloß die Tür, die in das Zimmer mit der Essenden führte. Er sperrte sie zu und vergewisserte sich durch zweimaliges Hin- und Herdrehen des Schlüssels, ob er auch wirklich zugesperrt habe, und eilte zur Wohnungstür hin. Auf halbem Wege kehrte er noch einmal um, zog den Zimmerschlüssel ab und steckte ihn in seine hintere Hosentasche. Es klingelte zum zweiten Mal.
„Komme gleich!“ schrie er und hastete nun schon das dritte Mal das lange, schmale Vorzimmer hinauf zur Wohnungstür hin, die er diesmal endlich erreichte. Etwas atemlos geworden, öffnete er sie. Vor ihm stand ein Briefträger, ein großer, magerer Mann in einer blauen Uniform mit roten, goldbesternten Kragenaufschlägen.
„Habe die Ehre!“ schrie ihn der Briefträger an, starrte ihm auf den Mund und wackelte mit den Ohren; er war nämlich schwerhörig.
„Ah, die Post“, sagte Podesta und spürte eine gewisse Erleichterung. Er hatte dieses „Ah, die Post“ mehr zu sich selbst als zu dem Briefträger gesagt, der jedoch, gewohnt, den Leuten auf den Mund zu schauen und alles auf sich zu beziehen, fühlte sich zu einem längeren Gespräch eingeladen und schrie: „Jawohl, die Post!“ Dann kramte er einen Brief aus seiner schwarzen Ledertasche hervor, hielt ihn Podesta hin und sagte abermals sehr, sehr laut: „Einen rekommandierten Brief für Herrn Ingenieur Podesta, Isidor Podesta, Ingenieur Isidor Podesta hätte ich da.“
Podesta streckte die Hand danach aus.
„Sind Sie das?“ schrie ihn der Briefträger an.
„Ja!“ schrie Podesta zurück.
„Sie sprechen aber gut Deutsch!“
„Warum auch nicht?“
„Na ja, Podesta ist doch ein italienischer Name.“
„Wenn schon, vielleicht könnte ich deshalb trotzdem von hier sein, und überhaupt, was geht denn das Sie an?“
„Nichts, ich frage nur.“
„Geben Sie mir lieber den Brief!“
Der Briefträger gab ihm den Brief und ließ sich den Empfang bestätigen. Als Podesta unterschrieben hatte, schrie er ihn wieder an: „Sie wohnen aber noch nicht lange hier?“
„Nein.“
„Wo haben Sie denn früher gewohnt?“
„In Neuburg.“
„In Neuburg. Neuburg kenne ich. Eine Schwester von der Mutter meiner Frau lebt dort. Voriges Jahr haben wir sie besucht. Sie hat eine schöne Pension. Aber sie ist nicht recht gesund. Die Galle. Ihr Mann war bei der Bahn. Nächstes Jahr wollen wir sie wieder besuchen.“
„Hier!“
Podesta gab ihm den Bogen Papier, auf dem er den Briefempfang bestätigt hatte, wieder zurück. „Vielleicht kennen Sie die Tante. Wanek heißt sie. Bundesbahninspektorswitwe Wanek. Sie hat eine …“
„Nein, ich kenne sie nicht. Auf Wiedersehen!“
Die Tür fiel krachend ins Schloß.
Der Briefträger zuckte die Achseln und stapfte die Treppen wieder hinunter. Ein eingebildetes Ekel, dachte er sich, ein arroganter Esel, dieser Ingenieur Podesta oder Podzeba oder wie immer der heißt. Wie unhöflich der ihm antwortete, als er ihm das Kompliment gemacht hatte, daß er gut Deutsch spreche. Dabei war es ja das Fräulein Holzer gewesen, das gesagt hatte, daß das ein italienischer Name sei. Der hat sicher nie in Neuburg gewohnt, sonst müßte er ja die Wanek kennen. Wer weiß, wo der her ist?
„Wer weiß, wo der her ist?“ murmelte er vor sich hin und blieb mit mißbilligendem Kopfschütteln vor dem schmutzigen Stiegenfenster im ersten Stock stehen. Er beobachtete ein paar Sekunden lang eine etwa erbsengroße Spinne, die in einer Nische unter dem Fensterbrett gerade dabei war, eine dicke Fliege einzuwickeln, und ging dann wieder weiter.
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