»Wir sollten –«, beginne ich, doch Hunter steht nicht mehr neben mir. Ich schaue mich um und sehe, wie er mit dem Handy am Ohr den Bürgersteig auf und ab geht. Was verheimlichst du mir noch immer?
Über mir werden Rollläden heraufgezogen und enthüllen Fenster, die auf mich herabstarren wie große, leere Augen. Mein Herz pocht. Die Seaview Hills erwachen zum Leben – und damit wird es höchste Zeit für uns, von der Straße zu verschwinden. Einen Moment lang bin ich hin- und hergerissen, mache einen Schritt in Hunters, einen in die entgegengesetzte Richtung. Dann schiebe ich mich vorsichtig durch das geöffnete Tor, gehe an einem parkenden Prius vorbei und bleibe vor der Eingangstür stehen. An der trostlosen Betonwand des Appartementblocks sind drei Klingelschilder befestigt, zwei davon ohne Namen. Neben der untersten Klingel steht Angela Kent in handgeschriebenen Buchstaben.
Plötzlich höre ich das Geräusch eines Motors herannahen. Mein Herz schlägt schneller, doch ich traue mich nicht, zur Straße zu sehen. Was, wenn gleich ein schwarzer Transporter um die Ecke biegt? Bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, habe ich schon die Klinke der Haustür hinuntergedrückt. Sie ist nicht verschlossen. Atemlos stolpere ich hinein und presse mich gegen die kalte Wand. Das Motorengeräusch kommt näher und ich sprinte zu dem Fenster im Treppenhaus. Ich erreiche es gerade rechtzeitig, um einen Ford mit ganz normalem Kennzeichen um die nächste Ecke biegen zu sehen. Wer auch immer da gerade vorbeigefahren ist, sucht nicht nach der Verräterin und dem falschen Testleiter . Mein rasendes Herz beruhigt sich. Die Kristallisierer werden vermuten, dass wir nach unserer Flucht aus dem Zentrum den Zugschienen nach Norden gefolgt sind, zurück in Richtung New York. Sie haben keine Ahnung, wo wir sind .
Ich laufe die wenigen Treppenstufen zurück ins Erdgeschoss und bleibe vor einer Wohnungstür mit Angelas Namen stehen. Überrascht sehe ich, dass sie nur angelehnt ist.
»Hallo?« Ich hebe die Hand und klopfe, doch drinnen rührt sich nichts. Es ist ihr doch nichts passiert?
Auf den Türrahmen ist eine Fünf mit einem Kreis drum herum gezeichnet. Als ich mit den Fingern darüberfahre, bleibt die staubige Farbe an meiner Hand zurück. Kohle. Was bedeutet das?
Und wo bleibt Hunter?
Irgendwo in der Ferne läuten Kirchenglocken. Sieben Mal. Sieben Uhr morgens. Also wird Luce mittlerweile seit neun Stunden vom Konsilium verhört . Ich denke an die Entschlossenheit, mit der sie Elias und dem Konsiliar entgegengetreten ist, und weiß, dass sie versuchen wird, stark zu bleiben. Für mich und für uns alle. Aber wie lange wird ihr das noch gelingen?
Ich klopfe erneut an Angelas Wohnungstür, doch wieder bekomme ich keine Antwort. Zögernd drücke ich die Tür auf. Strecke den Kopf in die Wohnung, sehe mich um. Keine umgeworfenen Möbel, keine Kampfspuren. Meine Anspannung sinkt. Wahrscheinlich leiden Hunter und ich einfach unter Verfolgungswahn .
»Angela?«, probiere ich es noch einmal. »Ich bin eine Freundin von Hunter.«
Zaghaft trete ich in ein Wohnzimmer, das mit hellgrauem Teppich ausgelegt ist. Ein scharfer Geruch steigt mir in die Nase. An irgendetwas erinnert er mich. Vielleicht ist es Desinfektionsmittel? Ich gehe ein paar Schritte weiter. Und dann fällt mein Blick auf den Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand. Ein Laptop!
Im Gehen nehme ich das Diktiergerät aus der Tasche. Alles, was wir brauchen, ist Zugang zum Internet, um den Menschen die Augen über unsere Regierung zu öffnen. Chloe Cremonte wird den Parteivorsitz verlieren, genau wie der Präsident seinen Platz im Weißen Haus. Denn noch werden die Leute sich dem verzerrten Weltbild von ReNatura nicht kampflos fügen!
Ich klappe den Laptop auf. Wenn ich es schaffe, unsere Aufnahmen in jeden wichtigen Social-Media-Kanal zu laden, haben wir es geschafft! Ich überlege, wie ich Angelas Passwort umgehen kann, als sich anstelle einer Anmeldeseite eine eisblaue Schrift über den schwarzen Bildschirm zu ziehen beginnt.
Man muss wissen, wann man verloren hat .
Ich verstehe nicht, was das bedeuten soll. Dann ertönt ein Knall.
Das Geräusch von splitterndem Glas lässt mich herumfahren. »Skye!«
Ich stürze zurück, die Straße entlang, renne durch das offene Tor und die Eingangstür in den Flur, wo mir eine Welle von Hitze entgegenschlägt.
Skye! Bitte nicht …
Dicker, beißender Rauch verpestet die Luft, und meine Augen beginnen zu tränen, als ich mich in Angelas Wohnzimmer kämpfe. Es steht in grellen Flammen.
Nein .
Nein!
Ich kann Skye nicht verlieren. Ich kann nicht zulassen, dass die Kristallisierer mir auch noch sie nehmen!
Wo bist du?
Verzweifelt versuche ich, durch den dichten Rauch etwas zu erkennen. Ich wische mir die Tränen aus den Augen. Da liegt sie, auf dem Rücken. Umringt von Feuer, das sich unaufhaltsam durch den Teppich frisst. Ich stürze an der brennenden Couch vorbei und hebe Skye hoch. McCartys Bericht fällt aus ihrer Tasche und fängt augenblicklich Feuer. Benzin , denke ich mit zusammengebissenen Zähnen. Jemand hat hier Benzin ausgeschüttet!
Skye rührt sich nicht. Ich schirme sie mit meinem Körper vor den Flammen ab und entdecke eine Balkontür in unserem Rücken. Ich ziehe mein Shirt hoch, presse es über Nase und Mund, und haste mit Skye in den Armen durch das Zimmer, während sich die hohen Pieptöne der Rauchmelder in meinen Ohren mit dem Knistern der Flammenhölle vermischen. Ich reiße die Tür auf, stürze auf den Balkon und schaffe es, uns beide über die niedrige Brüstung auf den Parkplatz hinunterzuhieven.
Erst hinter dem nächsten Wohnblock bleibe ich im Schatten einer Toreinfahrt stehen. Vorsichtig lege ich Skye auf dem Asphalt ab.
»Bitte, Skye«, flüstere ich. Angsterfüllt lehne ich meine Stirn an ihre. Du weißt es nicht, aber ich liebe dich mehr als alles andere auf dieser Welt .
Eine Hand greift nach meiner, und mein Herz stolpert, als kornblumenblaue Augen zu mir aufblicken. Skye atmet rasselnd. »Wo ist –« Sie dreht den Kopf zur Seite und hustet. »Wo ist das Diktiergerät?«
Ich taste nach ihrer Jackentasche, doch Skye schüttelt den Kopf, langsam und mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Es war in meiner Hand! Ich muss es fallen gelassen haben.« Sie will sich aufsetzen und stöhnt.
»Es ist hier«, lüge ich hastig.
Skye lässt sich erleichtert zurück in meine Arme sinken.
»Dann haben wir es fast geschafft«, flüstert sie.
»Ja.« Eine dumpfe Verzweiflung breitet sich in mir aus. »Fast.«
Skyes Augenlider flattern, als ich sie auf den Rücksitz des Cadillacs hebe. Das Schloss war ein Kinderspiel, wie immer bei alten Autos. Ich lächle, so aufmunternd ich kann, obwohl mir noch nie in meinem Leben so wenig danach zumute war. Behutsam streiche ich über ihren Arm, aus dem ich geistesgegenwärtig die Splitter gezogen habe. Sie müssen von dem Laptop stammen. Von der Bombe . Meine Kehle schnürt sich zu, als ich zurücksehe, die Straße hinunter, wo sich nun schwarze Rauchwolken über dem Wohnkomplex bilden. Das Diktiergerät ist zerstört, genau wie der Bericht von McCarty. Unsere Beweise für die Existenz von ReNatura – für immer fort. Aber darum werde ich mich später kümmern müssen. Die Kristallisierer sind bereit, uns zu töten. Wir müssen von hier verschwinden .
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