»Das ist der Rückzug unsres Nachtrabs!« rief der Major. »Keine Hoffnung mehr!«
»Ich habe Ihren Wagen geschont, Philipp,« sagte eine Freundesstimme.
Als er sich umwandte, erkannte Sucy beim Licht der Flammen den jungen Adjutanten.
»Ach, es ist alles verloren!« erwiderte der Major. »Sie haben mein Pferd verzehrt. Und wie soll ich auch den stumpfsinnigen General und seine Frau auf den Weg bringen?«
»Nehmen Sie einen Feuerbrand und drohen Sie ihnen.«
»Soll ich die Gräfin bedrohen?«
»Adieu!« rief der Adjutant. »Ich habe gerade nur noch Zeit, diesen fatalen Fluß zu überschreiten, und das muß geschehen. Ich habe eine Mutter in Frankreich. Was für eine Nacht! Diese Masse hier will lieber auf dem Schnee bleiben, und die Mehrzahl dieser Unglücklichen will sich lieber verbrennen lassen als sich erheben. Es ist vier Uhr, Philipp! In zwei Stunden werden die Russen anfangen sich zu rühren. Ich versichere Ihnen, daß Sie die Beresina bald voller Leichname sehen werden. Denken Sie an sich, Philipp! Sie haben keine Pferde, Sie können die Gräfin nicht tragen; also vorwärts, kommen Sie mit mir,« sagte er und faßte ihn am Arme.
»Aber, lieber Freund, wie soll ich Stephanie verlassen!«
Der Major ergriff die Gräfin, stellte sie auf die Beine, schüttelte sie mit der Rauheit eines Verzweifelten und zwang sie, aufzuwachen; sie sah ihn mit totem, starrem Blicke an.
›Wir müssen vorwärts, Stephanie, oder wir sterben hier.‹
Als alle Antwort versuchte die Gräfin, sich zur Erde gleiten zu lassen, um zu schlafen. Der Adjutant ergriff einen Feuerbrand und bewegte ihn vor dem Gesicht Stephanies hin und her.
›Retten wir sie gegen ihren Willen!‹ rief Philipp, hob die Gräfin auf und trug sie in den Wagen.
Er kehrte zurück und bat den Adjutanten um Hilfe. Beide nahmen den alten General, ohne zu wissen, ob er tot oder lebendig war, und legten ihn neben seine Frau. Der Major stieß mit dem Fuße jeden einzelnen der auf der Erde liegenden Leute weg, nahm ihnen ab, was sie geraubt hatten, häufte alle Kleider auf die beiden Gatten und warf in eine Ecke des Wagens etliche gebratene Stücke ihres Pferdes. ›Was wollen Sie denn machen?‹ fragte ihn der Adjutant.
›Sie schleppen‹, sagte der Major.
›Sie sind wohl toll!‹
›Das ist wahr!‹ rief Philipp und kreuzte die Arme über der Brust.
Plötzlich schien er von einem verzweifelten Gedanken gepackt zu sein.
›Du!‹, sagte er und ergriff den gesunden Arm seines Soldaten, ›ich vertraue sie dir für eine Stunde an! Denke daran, daß du eher sterben mußt, als, wer es auch sei, an den Wagen herankommen lassen darfst.‹ Der Major bemächtigte sich der Diamanten der Gräfin, nahm sie in die eine Hand, zog mit der andern den Säbel und begann wütend auf die Schläfer loszuschlagen, die er für die unerschrockensten hielt, und es gelang ihm auch, den kolossalen Grenadier und noch zwei andere Männer, deren militärischer Rang unmöglich zu erkennen war, aufzuwecken.
»Wir sind verloren«, sagte er zu ihnen.
»Das weiß ich wohl,« antwortete der Grenadier, »aber das ist mir egal.«
»Nun also, so oder so tot, ist es nicht besser, sein Leben für eine hübsche Frau zu verkaufen, auf die Gefahr hin, Frankreich noch einmal wiederzusehen?«
»Ich will lieber schlafen,« sagte einer von den Leuten und rollte auf den Schnee, »und wenn du mich weiter belästigst, Major, werde ich dir mein Bajonett in die Wampe pflanzen.«
»Worum handelt es sich, Herr Major?«, fragte der Grenadier. »Der Kerl ist betrunken! Das ist ein Pariser; die wollen es bequem haben.«
»Das hier ist für dich, mein braver Kerl,« rief der Major und bot ihm einen Diamantenschmuck an, »wenn du mir folgen und wie ein Wilder kämpfen willst. Die Russen werden in zehn Minuten auf dem Marsche sein, sie sind beritten; wir werden auf ihre erste Batterie losmarschieren und zwei Pferde mit uns nehmen.«
»Aber die Schildwachen, Herr Major?«
»Einer von uns dreien« , sagte er zu dem Soldaten. Er unterbrach sich und sah den Adjutanten an; »Sie kommen mit uns, Hippolyt, nicht wahr?«
Hippolyt stimmte mit einem Kopfnicken zu.
»Einer von uns«, fuhr der Major fort, »wird die Schildwache auf sich nehmen. Übrigens werden sie auch vielleicht schlafen, diese verdammten Russen.«
»Bist du wirklich so tapfer, mein Major? Aber du wirst mich auch in deinem Wagen mitnehmen?» sagte der Grenadier.
»Jawohl, wenn du dort oben nicht dein Fell opfern mußt. Wenn ich falle, versprecht mir, Hippolyt und du, Grenadier,» sagte der Major und wandte sich an seine beiden Gefährten, ,»daß ihr euch für die Rettung der Gräfin aufopfern wollt.»
»Abgemacht«, rief der Grenadier.
Sie wandten sich der Linie der Russen zu, nach den Batterien hin, die so furchtbar die Masse der Unglücklichen zerschmettert hatten, die am Ufer des Flusses lagen. Einige Augenblicke nach ihrem Verschwinden ertönte der Galopp zweier Pferde auf dem Schnee, und die wachgewordene Batterie sandte einige Salven hinterher, die über die Häupter der Schläfer hinweggingen; der Galopp der Pferde war so überstürzt, daß man von Schmiedhämmern hätte reden mögen. Der edelmütige Adjutant war gefallen. Der athletische Grenadier war heil und gesund geblieben. Philipp hatte bei der Verteidigung seines Freundes einen Bajonettstich in die Schulter erhalten; trotzdem klammerte er sich an die Nackenhaare des Pferdes und preßte es so fest mit seinen Beinen, daß das Tier sich wie in einem Schraubstock befand.
»Gott sei gelobt!« rief der Major, als er seinen Soldaten unbeweglich im Wagen an seinem Platze vorfand.
»Wenn Sie gerecht sein wollen, Herr Major, werden Sie mir das Kreuz verschaffen. Wir haben hübsch mit dem Schießprügel und dem Stichgewehr gespielt, was?«
»Wir haben noch nichts geleistet. Jetzt müssen wir die Pferde anspannen. Nehmen Sie die Seile.«
»Es sind nicht genug davon vorhanden.«
»Dann, Grenadier, müssen Sie Hand an die Schläfer legen und ihre Umhänge und ihre Wäsche dazu nehmen …«
»Sieh mal an, er ist tot, dieser Hanswurst!« rief der Grenadier, als er den ersten, an den er sich wandte, umdrehte. »Ach, wie komisch, sie sind ja tot!«
»Alle?«
»Jawohl, alle! Es scheint, das Pferd ist ein unverdauliches Essen, wenn man es mit Schnee genießt.« diese Worte ließen Philipp erzittern. Der Frost war noch stärker geworden.
»Mein Gott! Eine Frau verlieren, die ich schon zwanzigmal gerettet habe.«
Der Major schüttelte die Gräfin und rief: »Stephanie! Stephanie!«
Die junge Frau öffnete ihre Augen.
»Wir sind gerettet, Madame.«
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