»Gerettet!« wiederholte sie und fiel zurück.
Die Pferde wurden, so gut es ging, angespannt. Mit seinem Säbel in der gesunden Hand, die Zügel in der andern, bestieg er, mit seinen Pistolen bewaffnet, das eine Pferd, während der Grenadier sich auf das andere setzte. Der alte Soldat, dessen Füße erfroren waren, wurde quer in den Wagen über den General und die Gräfin geworfen. Durch Säbelhiebe angestachelt, trugen die Pferde die Equipage mit wütender Eile in die Ebene hinaus, wo unzählige Schwierigkeiten den Major erwarteten. Bald war es unmöglich, vorwärts zu kommen, ohne zu riskieren, Männer, Frauen und eingeschlafene Kinder totzufahren, die alle sich zu rühren verweigerten, als der Grenadier sie aufweckte. Vergeblich suchte Herr de Sucy den Weg, den der Nachtrab inzwischen sich mitten in dieser Menschenmasse gebahnt hatte; er war verschwunden wie das Kielwasser des Schiffes auf dem Meere; es ging nur im Schritt weiter, meist von den Soldaten angehalten, die damit drohten, die Pferde zu töten.
›Wollen Sie weiter kommen?‹ fragte der Grenadier.
›Um den Preis meines Blutes, um den Preis der ganzen Welt‹, erwiderte der Major.
›Vorwärts! Man macht keine Omeletten, ohne Eier zu zerschlagen.‹
Und der Grenadier jagte die Pferde auf die Menschen los, ließ blutige Geleise hinter sich, stürzte die Zelte um und bahnte sich eine doppelte Furche quer durch dieses Feld von Köpfen. Aber wir müssen ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er niemals unterließ, mit donnernder Stimme zu rufen: ›Achtung, ihr Biester!‹
›Die Unglücklichen!‹ rief der Major.
›Bah! Entweder der Frost oder die Kanonen!‹ sagte der Grenadier, trieb die Pferde an und stach mit der Spitze seines Säbels auf sie los.
Eine Katastrophe, die ihnen sehr viel früher hätte begegnen und vor der bis dahin ein fabelhafter Zufall sie bewahrt hatte, hielt plötzlich ihren Weg an. Der Wagen stürzte um.
›Das dachte ich mir!‹ rief der unerschütterliche Grenadier aus. ›Oh, oh! Der Kamerad ist tot!‹
›Armer Laurent!‹ sagte der Major.
›Laurent? Ist er nicht von den fünften Jägern?‹
›Jawohl.‹
›Das ist mein Vetter. Bah! Das Hundeleben ist nicht schön genug, daß man es in der jetzigen Zeit zu bedauern hätte.‹
Der Wagen wurde nicht wieder aufgerichtet, die Pferde nicht wieder freigemacht ohne einen unendlichen, nicht wieder gut zu machenden Zeitverlust. Der Stoß war so heftig gewesen, daß die junge Gräfin, die erwacht und durch die Bewegung aus ihrer Betäubung aufgerüttelt worden war, die Kleidungsstücke abwarf und sich erhob.
»Wo sind wir denn, Philipp?« rief sie mit sanfter Stimme und sah um sich.
»Fünfhundert Schritt von der Brücke entfernt. Wir wollen über die Beresina. Jenseits des Flusses, Stephanie, werde ich Sie nicht mehr quälen, werde Sie schlafen lassen, wir werden in Sicherheit sein und in Ruhe Wilna erreichen. Gebe Gott, daß Sie niemals erfahren, was Ihr Leben gekostet hat!«
»Du bist verwundet?«
»Es bedeutet nichts.«
Die Stunde der Katastrophe war herangekommen. Die Kanonen der Russen kündigten den Tag an. Herren von Studzianka, feuerten sie über die Ebene; und bei dem ersten Morgenlicht bemerkte der Major ihre Kolonnen sich auf den Höhen formieren. Ein Alarmgeschrei erhob sich mitten aus der Menge, die in einem Moment auf den Beinen war. Instinktmäßig begriff jeder die ihm drohende Gefahr, und alle drängten sich in Wellenbewegungen der Brücke zu. Die Russen eilten mit der Schnelligkeit eines Feuerbrandes hinab. Männer, Weiber, Kinder, Pferde, alles marschierte auf die Brücke los. Glücklicherweise befanden sich der Major und die Gräfin noch ziemlich entfernt vom Ufer. Der General Eblé hatte Feuer an die Zelte am andern Ufer gelegt. Trotz der Warnungen, die vor dem Betreten der Rettungsplanke gegeben wurden, wollte niemand zurückweichen. Nicht nur senkte sich die mit Menschen überladene Brücke, sondern der heftige Strom von Menschenzufluß stürzte wie eine verhängnisvolle Lawine so hinab, daß eine Menschenmenge wie ein Schneesturz ins Wasser mitgerissen wurde. Man hörte keinen Schrei, sondern nur das dumpfe Geräusch eines ins Wasser gefallenen Steins; dann war die Beresina mit Leichnamen bedeckt. Der Rückstoß derjenigen, die in die Ebene zurückwichen, um diesem Tode zu entgehen, war so furchtbar, daß eine große Menge von Leuten durch Erstickung starben. Der Graf und die Gräfin verdankten ihr Leben nur ihrem Wagen. Nachdem die Pferde eine Masse Sterbender zerschmettert und vernichtet hatten, gingen sie selbst zugrunde unter den Füßen einer Art menschlicher Wasserhose, die auf das Ufer stürzte. Der Major und der Grenadier retteten sich durch ihre Kraft. Sie töteten, um nicht selbst getötet zu werden. Dieser Orkan von menschlichen Gesichtern, dieses Hin- und Herfließen von durch die gleiche Bewegung getragenen menschlichen Körpern, ließ während einiger Augenblicke das Ufer der Beresina verlassen erscheinen. Die Masse hatte sich zurück in die Ebene geworfen. Wenn etliche Menschen sich von oben den steilen Abhang hinabließen, so geschah das weniger in der Hoffnung, das andere Ufer zu erreichen, was für sie Frankreich bedeutete, als um den Wüsten Sibiriens zu entrinnen. Die Verzweiflung wurde eine Rettung für etliche mutige Leute. Ein Offizier sprang von Scholle zu Scholle bis an das andere Ufer; ein Soldat kletterte mit wunderbarer Geschicklichkeit über einen Haufen von Leichnamen und Eisschollen. Diese riesenhafte Volksmasse begriff schließlich, daß die Russen nicht zwanzigtausend waffenlose, erfrorene, stumpfgewordene Menschen, die sich nicht verteidigen würden, töten wollten, und jeder erwartete sein Los mit furchtbarer Resignation. So blieben also der Major, sein Grenadier, der alte Soldat und seine Frau allein einige Schritte von dem Orte, wo sich die Brücke befand. Alle vier standen hier aufrecht, mit trockenen Augen, stillschweigend und von einer Menge Toter umgeben. Etliche kräftige Soldaten, etliche Offiziere, denen die Verhältnisse alle ihre Energie wiedergaben, fanden sich neben ihnen ein. Diese ziemlich zahlreiche Gruppe umfaßte ungefähr fünfzig Menschen. Der Major bemerkte in einer Entfernung von zweihundert Schritt die Ruinen der Brücke, die für die Wagen hergestellt, aber vorher zusammengebrochen war.
»Zimmern wir uns ein Floß zusammen!« rief er.
Kaum hatte er dieses Wort fallen lassen, als die ganze Gruppe auf die Trümmer zulief. Eine Menge Menschen schickte sich an, Eisenstäbe aufzusammeln, Holzstücke, Seile aufzusuchen, kurz alles für den Bau eines Flosses notwendige Material. Eine Truppe von zwanzig Soldaten und Offizieren bildeten eine von dem Major befehligte Garde, um die Arbeiter gegen die verzweifelten Angriffe zu schützen, die die Masse vollführen könnte, wenn sie ihren Plan erriet. Das Gefühl der Freiheit, das die Gefangenen beseelt und ihnen Wunder einflößt, kann mit dem nicht verglichen werden, das in diesem Augenblick die unglücklichen Franzosen handeln ließ.
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