›Zurück! Nehmen Sie sich in acht!‹ riefen zwei bis drei Soldaten und machten sich an das Pferd.
Philipp stellte sich vor sein Tier und sagte: ›Schufte! Ich stoße euch alle in euer Feuer. Da oben gibt’s genug tote Pferde! Holt sie euch.‹
›Ist das ein Spaßvogel, dieser Offizier! Eins, zwei, willst du dich wehren?‹ entgegnete ein riesiger Grenadier. ›Na, gut, wie du willst!‹
Der Schrei einer Frau lenkte den Schuß ab. Philipp wurde glücklicherweise nicht getroffen; aber Bichette, die zusammengebrochen war, kämpfte mit dem Tode; drei Männer stürzten sich auf sie und gaben ihr mit Bajonettstößen den Rest.
›Kannibalen! Laßt mich wenigstens die Decke und meine Pistolen nehmen,‹ sagte Philipp verzweifelt. ›Die Pistolen, ja‹, erwiderte der Grenadier. ›Aber was die Decke anlangt, da ist ein Infanterist, der seit zwei Tagen ›nichts auf seiner Laterne‹ hat, und der in seinem elenden Jammerrock zittert. Das ist unser General …‹
Philipp schwieg, als er einen Mann sah, dessen Schuhzeug verbraucht, dessen Hose an zehn Stellen durchlöchert war, und der auf dem Kopfe eine schlechte, mit Eis bedeckte Polizeimütze trug. Er beeilte sich, seine Pistolen an sich zu nehmen. Fünf Männer zogen das Tier vor das Feuer und begannen, es mit solcher Geschicklichkeit zu zerlegen, wie es Fleischergesellen in Paris hätten machen können. Mit bewunderungswürdiger Kunst wurden die Stücke abgelöst und auf Kohlen gelegt. Der Major stellte sich neben die Frau, die einen Schrei des Entsetzens ausgestoßen hatte, als sie ihn wiedererkannte; er sah sie unbeweglich auf einem Wagenkissen sitzend und sich wärmend; sie betrachtete ihn stillschweigend, ohne ihm zuzulächeln. Philipp sah jetzt neben ihr den Soldaten, dem er die Verteidigung des Wagens anvertraut hatte; der arme Mensch war verwundet worden. Überwältigt von der Menge, war er eben den Nachzüglern gewichen, die ihn angegriffen hatten; aber wie ein Hund, der bis zum letzten Augenblick das Essen seines Herrn verteidigt hat, hatte er sich seinen Teil an der Beute genommen und sich aus einem weißen Tuch eine Art Mantel gemacht. Jetzt war er damit beschäftigt, ein Stück Pferdefleisch umzudrehen, und der Major nahm auf seinem Gesichte die Freude wahr, die ihm die Zurüstungen zu dem Festessen verursachten. Der Graf von Vandières, seit drei Tagen in eine Art kindischen Zustandes verfallen, blieb auf seinem Kissen neben seiner Frau sitzen und betrachtete mit unbeweglichen Augen die Flammen, deren Wärme anfing, seine Erstarrung zu mildern. Er war von der Gefahr und der Ankunft Philipps nicht mehr erregt worden, als von dem Kampf, bei dem sein Wagen geplündert worden war. Sucy ergriff zuerst die Hand der jungen Gräfin, um ihr ein Zeichen seiner Hingabe auszudrücken und ihr den Schmerz darüber kundzugeben, daß sie so ins letzte Elend geraten war; aber er blieb stumm neben ihr auf einem Schneehaufen, der sich in Wasser auflöste, sitzen und gab selbst dem Wohlgefühl, sich zu erwärmen, nach, die Gefahr und alles andere vergessend. Sein Gesicht nahm gegen seine Absicht einen beinahe stumpfsinnigen Ausdruck von Freude an, und er wartete ungeduldig auf den Augenblick, wo das seinen Soldaten gegebene Stück Pferdefleisch gebraten war. Der Geruch dieses verkohlten Fleisches reizte seinen Hunger, und sein Hunger ließ sein Herzensempfinden, seinen Mut und seine Liebe schweigen. Ohne Zorn betrachtete er die Ergebnisse der Plünderung seines Wagens. Alle Leute, die das Feuer umgaben, hatten sich in die Decken, die Kissen, die Pelze, die männlichen und weiblichen Kleidungsstücke des Grafen und der Gräfin geteilt. Philipp wandte sich um, weil er sehen wollte, ob man noch Nutzen aus seiner Kasse ziehen konnte. Beim Lichte der Flammen bemerkte er Gold, Diamanten und Silberzeug zerstreut, ohne daß jemand daran dachte, sich auch nur das geringste Stück davon anzueignen. Jedes der Individuen, die der Zufall um das Feuer zusammengebracht hatte, bewahrte ein Stillschweigen, das etwas Fürchterliches an sich hatte, und tat nichts weiter, als was er für sein Wohlbefinden für notwendig erachtete. Dieses Elend hatte etwas Groteskes. Die von der Kälte veränderten Gesichter waren mit einem Überzug von Schmutz bedeckt, auf dem sich die Tränenspuren von den Augen bis zum unteren Teil der Wangen mit einer Furche abzeichneten, die die Dicke dieser Kruste anzeigte. Die Unsauberkeit ihrer langen Bärte machte die Soldaten noch abscheulicher. Die einen waren in Weiberschals gewickelt; die anderen trugen Pferdeschabracken, schmutzige Decken und Lumpen, bedeckt mit Reif, der anfing zu zerschmelzen; einige hatten einen Fuß in einem Schuh, den andern in einem Stiefel; schließlich gab es niemanden, dessen Kleidung nicht irgendeine lächerliche Besonderheit aufwies. Inmitten dieser komischen Umhüllung verharrten die Männer ernst und düster. Das Schweigen wurde nur von dem Krachen des Holzes unterbrochen, von dem Flackern der Flamme, von dem fernen Geräusch des Feldes und von den Säbelhieben, die die Verhungertsten Bichette versetzten, um die besten Stücke davon abzureißen. Einige Unglückliche, matter als die andern, schliefen bereits, und wenn einer von ihnen ins Feuer rollte, zog ihn niemand zurück. Diese strengen Logiker dachten, daß, wenn er nicht tot war, das Verbrennen ihn schon veranlassen würde, sich an einen geeigneteren Ort hinzulegen. Wenn aber der Unglückliche im Feuer erwachte und umkam, so beklagte ihn niemand. Etliche Soldaten sahen einander an, wie um ihre eigene Unbekümmertheit durch die Gleichgültigkeit der anderen gerechtfertigt zu sehen. Die junge Gräfin hatte zweimal einen solchen Anblick und blieb stumm. Als die verschiedenen Stücke, die man auf die Kohlen gelegt hatte, gebraten waren, stillte jeder seinen Hunger mit der Freßgier, die uns bei den Tieren so widerwärtig erscheint.
»Das ist das erstemal, daß man dreißig Infanteristen auf einem Pferde gesehen hat,« rief der Grenadier, der das Tier abgestochen hatte.
Das war der einzige Scherz, der nationalen Witz bezeugte.
Bald rollte sich die Mehrzahl der armen Soldaten in ihre Kleider, legte sich auf Bretter, auf alles, was sie vor der Berührung mit dem Schnee schützen konnte, und schlief unbekümmert bis zum nächsten Morgen. Als der Major sich erwärmt und seinen Hunger gefüllt hatte, drückte ihm ein unbezwingliches Schlafbedürfnis auf die Wimpern. Während seines ziemlich kurzen Kampfes mit dem Schlafe betrachtete er die junge Frau, die, mit dem Gesicht zum Feuer gewendet, um zu schlafen, ihre geschlossenen Augen und einen Teil ihrer Stirn sehen ließ; sie war in einen dichten Pelz und einen dicken Dragonermantel gewickelt; ihr Kopf lag auf einem blutbefleckten Kopfkissen; ihre, von einem um den Hals geschlungenen Taschentuch festgehaltene Astrachanmütze schützte ihr Gesicht so viel als möglich vor der Kälte; die Füße hatte sie in den Mantel versteckt. So in sich selbst zusammengerollt, glich sie in der Tat nichts Menschlichem. War sie die letzte Marketenderin? War sie die entzückende Frau, der Stolz eines Liebhabers, die Königin der Pariser Bälle? Ach! Selbst das Auge ihres hingebendsten Freundes konnte nichts Weibliches mehr in diesem Haufen von Wäsche und Lumpen erkennen. Der Kälte war die Liebe im Herzen einer Frau gewichen. Durch die dichten Schleier, die der unwiderstehlichste Schlaf über die Augen des Majors breitete, sah er den Mann und die Frau nur noch wie zwei Punkte. Die Flammen des Feuers, die Gesichter überall, die schreckliche Kälte, die, drei Schritte von der flüchtigen Wärme entfernt, sich durchbohrend geltend machte, alles floß in einen Traum zusammen. Ein peinlicher Gedanke erschreckte Philipp. »Wir werden alle sterben, wenn ich einschlafe; ich will nicht schlafen,« sagte er sich. Aber er schlief. Ein schrecklicher Lärm und eine Explosion erweckten Herrn de Sucy nach einer Stunde Schlaf. Das Gefühl, seine Pflicht tun zu müssen, die Gefahr seiner Freunde fielen ihm plötzlich schwer aufs Herz. Er stieß einen Schrei ähnlich einem Geheul aus. Er und sein Soldat standen allein aufrecht. Sie erblickten ein Feuermeer vor sich, das im Schatten der Nacht vor ihnen eine Masse Menschen abschnitt, indem es die Hütten und Zelte verzehrte; sie hörten Verzweiflungsschreie und Geheul; sie sahen Tausende von entsetzten Gesichtern und wütenden Köpfen. Inmitten dieser Hölle bahnte sich eine Kolonne von Soldaten einen Weg nach der Brücke zu zwischen zwei Reihen von Kadavern hindurch.
Читать дальше