Sie ließ einen Schmerzensschrei hören und stellte sich ganz auf ihre Füße. Ihre Bewegungen folgten einander so graziös und wurden so leicht ausgeführt, daß sie kein menschliches Wesen, sondern eine der durch die Dichtungen Ossians berühmt gewordenen Töchter der Luft zu sein schien. Sie ging an eine der Wasserflächen heran, schüttelte leicht ein Bein, um ihren Schuh loszumachen, und schien ein Vergnügen daran zu finden, ihren alabasterweißen Fuß in die Quelle zu tauchen, während sie sich jedenfalls an den Wellenbewegungen ergötzte, die sie dabei erzeugte und die Edelsteinen glichen. Dann kniete sie an dem Rande des Bassins nieder und amüsierte sich wie ein Kind damit, ihre langen Flechten ins Wasser zu tauchen und sie dann schnell wieder herauszuziehen, um Tropfen für Tropfen das Wasser, von denen es voll war, hinablaufen zu lassen, das, von den Sonnenstrahlen durchleuchtet, einen förmlichen Rosenkranz von Perlen bildete.
»Das Weib ist irrsinnig!« rief der Rat aus.
Ein rauher Schrei, den Genovefa ausstieß, wurde laut und schien sich an die Unbekannte zu richten, die sich schnell umwandte und ihr Haar von beiden Seiten ihres Gesichtes wegstrich. In diesem Moment konnten der Oberst und d’Albon deutlich die Züge der Frau erkennen, die, als sie die beiden Freunde bemerkte, in mehreren Sprüngen mit der Leichtigkeit einer Hirschkuh auf das Gitter zueilte. »Adieu!« sagte sie mit sanfter, wohlklingender Stimme, aber ohne daß dieser, ungeduldig von den Jägern erwartete melodiöse Ton das geringste Empfinden oder das geringste Denken verriet.
Herr d’Albon bewunderte die langen Wimpern ihrer Augen, ihre schwarzen dichten Augenbrauen und ihre blendend weiße Haut ohne den geringsten Schimmer von Röte. Feine blaue Adern durchzogen allein ihren weißen Teint. Als der Rat sich umwandte, um seinem Freunde mitzuteilen, welches Erstaunen ihm der Anblick dieses seltsamen Weibes eingeflößt hatte, sah er diesen wie tot auf dem Grase liegen. Herr d’Albon schoß sein Gewehr in die Luft ab, um Leute herbeizurufen und schrie: »Zu Hilfe!« während er versuchte, den Obersten aufzurichten. Bei dem Knall des Schusses floh die Unbekannte, die bis dahin unbeweglich verharrt hatte, pfeilschnell davon, stieß Schreckensschreie wie ein verwundetes Tier aus und rannte über die Wiese mit allen Zeichen tiefsten Schreckens. Herr d’Albon vernahm das Heranrollen einer Kalesche auf der Landstraße von Ile-Adam und rief den Beistand der Spazierenfahrenden durch Winken mit seinem Taschentuch herbei. Sogleich lenkte der Wagen nach Bons-Hommes ein, und d’Albon erkannte Herrn und Frau von Grandville, seine Nachbarn, die sich beeilten, aus ihrem Wagen zu steigen und ihn dem Rat anzubieten. Frau von Grandville hatte zufälligerweise ein Flakon mit ätherischem Salz bei sich, das man Herrn de Sucy einatmen ließ. Als der Oberst die Augen wieder öffnete, wandte er sie der Wiese zu, auf der die Unbekannte nicht aufhörte zu rennen und zu schreien, und stieß einen undeutlichen Ruf aus, der aber doch eine Empfindung von Schrecken verriet; dann schloß er von neuem die Augen und machte eine Bewegung, als wolle er seinen Freund bitten, ihn diesem Schauspiel zu entreißen. Herr und Frau von Grandville überließen dem Rat die freie Verfügung über ihren Wagen, indem sie ihm entgegenkommenderweise erklärten, daß sie ihre Promenade zu Fuß fortsetzen wollten.
»Wer ist denn diese Dame?« fragte der Rat und zeigte auf die Unbekannte.
»Man vermutet, daß sie aus Moulins kommt«, antwortete Herr von Grandville. »Sie nennt sich Gräfin von Vandières. Man sagt, sie sei irrsinnig; aber da sie sich erst seit zwei Monaten hier aufhält, kann ich Ihnen nicht dafür einstehen, inwieweit alle diese Gerüchte auf Wahrheit beruhen.«
Herr d’Albon dankte Herrn und Frau de Grandville und fuhr nach Cassan.
»Sie ist es!« rief Philipp, als er wieder zum Bewußtsein gekommen war.
»Wer, sie?« fragte d’Albon.
»Stephanie. Ach, tot oder lebend, lebendig oder irrsinnig! Ich glaubte, ich müsse sterben.«
Der vorsichtige Rat, der die schwere Krisis begriff, in die sein Freund ganz verfallen war, hütete sich wohl, ihn auszufragen oder aufzuregen; es verlangte ihn ungeduldig danach, ins Schloß zu gelangen, denn die Veränderung, die in den Zügen und in der ganzen Persönlichkeit des Obersten sich geltend machte, ließ ihn befürchten, daß die Gräfin Philipp mit ihrer schrecklichen Krankheit angesteckt habe.
Sobald der Wagen die Einfahrt nach Ile-Adam erreicht hatte, schickte d’Albon den Diener zum Arzte des Fleckens; das geschah so, daß der Doktor sich schon an seinem Lager befand, als der Oberst zu Bett gebracht wurde.
»Wäre der Herr Oberst nicht fast nüchtern gewesen,« sagte der Chirurg, »so wäre er gestorben. Seine Mattigkeit hat ihn gerettet.«
Nachdem er die ersten Vorsichtsmaßregeln angeordnet hatte, entfernte sich der Doktor, um selbst einen beruhigenden Trank zu bereiten. Am andern Morgen befand sich Herr de Sucy besser, aber der Arzt wünschte selber, bei ihm zu bleiben.
»Ich muß Ihnen gestehen, Herr Marquis,« sagte der Doktor zu Herrn d’Albon, »daß ich an eine Verletzung des Gehirns geglaubt habe. Herr de Sucy ist das Opfer einer sehr heftigen Erregung geworden: seine Leidenschaftlichkeit ist schnell entflammt; aber bei ihm entscheidet sich alles auf den ersten Schlag. Morgen wird er vielleicht schon außer Gefahr sein.«
Der Arzt hatte sich nicht getäuscht; am andern Morgen erlaubte er dem Rat, seinen Freund wiederzusehen.
»Mein lieber d’Albon,« sagte Philipp und drückte ihm die Hand, »ich erwarte einen Dienst von dir! Eile schnell nach Bons-Hommes! Erkundige dich nach allem, was die Dame betrifft, die wir gesehen haben, und komm schnell zurück, denn ich zähle die Minuten.«
Herr d’Albon sprang auf ein Pferd und galoppierte nach der alten Abtei. Als er ankam, bemerkte er vor dem Gitter einen großen hageren Mann mit einnehmendem Gesicht, der bejahend antwortete, als der Rat ihn fragte, ob er dieses zerstörte Haus bewohne. Herr d’Albon teilte ihm den Grund seines Besuches mit.
»Wie, mein Herr,« rief der Unbekannte, »sollten Sie es gewesen sein, der den verhängnisvollen Flintenschuß hat losgehen lassen? Sie hätten beinahe meine arme Kranke getötet.«
»Oh, mein Herr, ich habe in die Luft geschossen.«
»Sie hätten der Frau Gräfin weniger Leid angetan, wenn Sie sie getroffen hätten.«
»Nun, wir haben uns nichts vorzuwerfen; denn der Anblick Ihrer Gräfin hat meinen Freund, Herrn de Sucy, beinahe getötet.«
»Sollte das der Baron Philipp de Sucy sein?« rief der Unbekannte und preßte die Hände zusammen. »War er in Rußland bei dem Übergang über die Beresina?«
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