»Los!« rief Herr de Sucy, »vorwärts! In einer kleinen Stunde werden wir an einem gut besetzten Tisch sitzen.«
»Sie können niemals geliebt haben,« erwiderte der Rat mit einem komischen Ausdruck von Mitleid, »denn Sie sind so unerbittlich wie der Artikel 304 des Strafgesetzbuchs!«
Ein heftiges Zittern überfiel Philipp; seine breite Stirn runzelte sich; sein Gesicht wurde ebenso düster, wie es der Himmel jetzt geworden war. Obgleich die Erinnerung an ein furchtbar bitteres Erlebnis alle seine Züge verzerrte, vergoß er keine Träne. Wie alle starken Männer vermochte er seine Aufregungen tief im Herzen zu begraben und empfand vielleicht, wie viele reine Seelen, eine Art Schamlosigkeit dabei, seine Schmerzen bloszulegen, wenn kein menschliches Wort ihre Tiefe ausdrücken kann und man den Spott der Leute fürchtet, die sie nicht verliehen wollen. Herr d’Albon war eine von den zartfühlenden Seelen, die Schmerzen zu ahnen wissen und ein lebhaftes Mitgefühl empfinden, wenn sie unbeabsichtigt durch irgendeine Ungeschicklichkeit Anstoß erregt haben. Er achtete das Schweigen seines Freundes, erhob sich, vergaß seine Müdigkeit und folgte ihm schweigend, ganz betrübt darüber, eine Wunde berührt zu haben, die wahrscheinlich nicht vernarbt war.
»Eines Tages, lieber Freund,« sagte Philipp zu ihm und drückte ihm die Hand, wobei er ihm mit einem herzzerreißenden Blick für sein stummes Mitgefühl dankte, »eines Tages werde ich dir mein Leben erzählen. Heute vermöchte ich es nicht.«
Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Als der Schmerz des Obersten sich besänftigt hatte, empfand der Rat seine Müdigkeit wieder; und mit dem Instinkt oder vielmehr mit dem Willen eines erschöpften Mannes durchforschte sein Auge alle Tiefen des Waldes; er prüfte die Wipfel der Bäume, studierte die Wege, in der Hoffnung, irgendeine Herberge zu finden, wo er um Gastfreundschaft bitten konnte. An einem Kreuzweg angelangt, glaubte er einen leichten Rauch zu entdecken, der zwischen den Bäumen aufstieg. Er blieb stehen, sah aufmerksam hin und erkannte inmitten einer riesigen Baumgruppe die grünen dunklen Zweige etlicher Fichten. »Ein Haus! Ein Haus!« rief er mit demselben Vergnügen, mit dem ein Schiffer gerufen hätte: » Land, Land!«
Dann eilte er schnell durch eine dichte Baumgruppe, und der Oberst, der in eine tiefe Träumerei versunken war, folgte ihm mechanisch.
»Ich will mich lieber hier mit einer Omelette, Hausbrot und einem Stuhl begnügen, als nach Cassan weitergehen, um dort Diwans, Trüffeln und Bordeauxwein zu finden.«
Das war der begeisterte Ausruf des Rates beim Anblick einer Mauer, deren weißliche Farbe sich weithin von der braunen Masse der knorrigen Stämme des Waldes abhob.
»Ei, ei! Das sieht mir aus wie irgendeine alte Priorei«, rief der Marquis d’Albon von neuem, als er vor einem alten schwarzen Gitter anlangte, wo er inmitten eines ziemlich weiten Parks ein Bauwerk erblickte, das in dem einstmals den Klosterbauten eigentümlichen Stil errichtet war. »Wie diese Kerls von Mönchen es verstanden haben, eine Baustelle auszuwählen!« Dieser neue Ausruf war der Ausdruck des Erstaunens, das dem Beamten die schöne Einsiedelei verursachte, die sich seinen Blicken darbot. Das Haus lag halbseits auf dem Abhang des Berges, dessen Gipfel von dem Dorfe Nerville eingenommen wird. Die großen hundertjährigen Eichen des Waldes, der einen riesigen Kreis um diese Behausung zog, machten daraus eine richtige Einsiedelei. Der einst für die Mönche bestimmte Hauptflügel lag gegen Süden. Der Park schien vierzig Morgen zu umfassen. Nahe bei dem Hause breitete sich eine grüne Wiese aus, die in glücklicher Weise von mehreren klaren Bächen und von geschickt angebrachten Wasserfällen durchflossen war, all das anscheinend ohne Anwendung von Kunst. Hier und da erhoben sich grüne Bäume von eleganten Formen mit verschiedenartigem Laub. Dann gaben da geschickt ausgesparte Grotten, mächtige Terrassen mit beschädigten Treppen und rostigen Geländern dieser wilden Thebais einen besonderen Ausdruck. Die Kunst hatte gefällig ihre Bauten mit den malerischen Wirkungen der Natur vereinigt. Die menschlichen Leidenschaften schienen am Fuß der großen Bäume sterben zu müssen, die dieses Asyl vor dem Heranströmen des Lärms der Welt verteidigten, wie sie die Glut der Sonne mäßigten.
»Was für ein Verfall!« sagte sich Herr d’Albon, nachdem er den düsteren Ausdruck empfunden hatte, den die Ruinen der Landschaft verliehen, die wie mit einem Fluch geschlagen erschien. Es war wie ein von den Menschen verlassener verwünschter Ort. Der Efeu hatte überall seine gewundenen Ranken und seinen reichen Blättermantel ausgebreitet. Braunes, grünes, gelbes oder rotes Moos überzog mit seiner romantischen Färbung Bäume, Bänke, Dächer und Steine. Die wurmstichigen Fenster waren vom Regen verwaschen und vom Wetter durchlöchert, die Balkone zerbrochen, die Terrassen zerstört. Manche Jalousien hielten nur noch an einem Haken. Die nicht schließenden Türen schienen keinem Angreifer standhalten zu können. Behangen mit leuchtenden Tuffs von Misteln, breiteten sich die ungepflegten Äste der Fruchtbäume weithin aus, ohne eine Ernte zu geben. Hochgewachsenes Kraut überwucherte die Alleen. Diese Reste gaben dem Bilde den Ausdruck reizvoller Poesie und erregten in der Seele des Beschauers träumerische Gedanken. Ein Dichter wäre hier in lange währende Melancholie versunken, voller Bewunderung für diese harmonische Unordnung, für dieses reizvolle Bild der Zerstörung. In diesem Moment erglänzten einige Sonnenstrahlen mitten durch die Lücken der Wolken und beleuchteten mit tausend Farben diese halb wilde Szene. Die braunen Dachziegel erstrahlten, das Moos leuchtete, phantastische Schatten huschten über die Wiesen unter den Bäumen hin; die erstorbenen Farben lebten wieder auf, eigenartige Gegensätze machten sich geltend, das Blattwerk hob sich scharf in der Helligkeit ab. Plötzlich verschwand das Licht. Die Landschaft, die gesprochen zu haben schien, wurde stumm und wieder düster, oder vielmehr matt wie der matteste Schimmer eines Herbstnebels.
»Das ist Dornröschens Schloß,« sagte sich der Rat, der das Haus nur noch mit den Augen des Eigentümers ansah. »Wem mag es nur gehören? Man muß sehr töricht sein, wenn man einen so hübschen Besitz nicht bewohnt!«
Plötzlich sprang eine Frau unter einem rechts vom Gitter stehenden Nußbaum hervor und huschte, ohne Geräusch zu machen, so schnell wie der Schatten einer Wolke bei dem Rat vorbei; diese Erscheinung machte ihn stumm vor Staunen.
Читать дальше