»Da sind die Russen! Da sind die Russen!« schrieen den Arbeitern ihre Verteidiger zu.
Das Holz kreischte, die Bohlen wuchsen in die Breite, Höhe und Tiefe. Generale, Soldaten, Obersten, alles bog sich unter dem Gewicht der Räder, der Eisen, der Bretter: es war ein wahrhaftes Bild des Baues der Arche Noah. Die junge Gräfin saß neben ihrem Manne und sah mit Bedauern zu, weil sie an der Arbeit nichts mittun konnte; trotzdem half sie, Knoten zu knüpfen, um die Seile fester zu machen. Endlich war das Floß fertig. Vierzig Menschen stürzten sich ins Wasser des Flusses, während ein Dutzend Soldaten die Seile hielten, die dazu dienen sollten, an dem Abhang festzuhalten. Kaum aber sahen die Erbauer ihre Einschiffung auf der Beresina sich vollziehen, so stürzten sie sich von dem Ufer oben hinab mit äußerster Selbstsucht. Der Major, der die Wut des ersten Ansturms befürchtete, hielt Stephanie und den General an der Hand fest; aber er erbebte, als er die dunkle Masse sich einschiffen sah und die darauf zusammengepreßten Menschen erblickte, wie Zuschauer im Parterre eines Theaters.
›Ihr Wilden!‹ rief er, ›ich habe euch doch den Gedanken eingegeben, ein Floß zu erbauen; ich bin euer Retter, und ihr verweigert mir meinen Platz!‹
Ein verworrener Lärm war die Antwort. Die am Rande des Flosses untergebrachten und mit Stäben zum Abstoßen vom Abhang versehenen Männer stießen mit Gewalt den Holzzug vorwärts, um ihn an das andere Ufer zu drängen und ihn die Eisschollen und Leichname durchschneiden zu lassen.
›Zum Donnerwetter nochmal! Ich renne euch ins Wasser, wenn ihr den Major und seine beiden Gefährten nicht richtig aufnehmt!‹ schrie der Grenadier, erhob seinen Säbel, verhinderte ihren Aufbruch und ließ sie zusammenrücken trotz der schrecklichen Schreie.
›Ich werde fallen! Ich falle!‹ schrieen seine Gefährten. ›Immer weiter vorwärts.‹
Der Major betrachtete trockenen Auges seine Geliebte, die ihre Augen zum Himmel mit erhabener Ergebung aufhob.
»Mit dir zusammen sterben!« sagte sie.
Es lag etwas Komisches in der Haltung der Leute auf dem Floß. Obgleich sie ein schauderhaftes Gebrüll ausstießen, wagte doch keiner dem Grenadier Widerstand zu leisten; denn sie waren so zusammengedrängt, daß eine einzige Person nur zu stoßen brauchte, um alles umzustürzen. In dieser Gefahr versuchte ein Hauptmann sich von einem Soldaten zu befreien, der die feindliche Bewegung des Offiziers wahrnahm, ihn anpackte und ihn ins Wasser stürzte mit den Worten: »Ach, du Ente, du willst trinken! Na dann los!«
»Hier sind zwei Plätze frei!« rief er dann. »Vorwärts, Major, werfen Sie uns Ihre kleine Frau herüber und kommen Sie selbst mit! Lassen Sie doch den alten Mops zurück, der wird ja morgen doch sterben!«
»Beeilt euch!« schrie eine Stimme, die sich aus hundert zusammensetzte.
»Vorwärts, Major … Die andern schimpfen, und sie haben recht.«
Der Graf von Vandières entledigte sich seiner Umkleidung und stand aufrecht in seiner Generalsuniform.
»Retten wir den Grafen«, sagte Philipp.
Stephanie drückte ihrem Freunde die Hand, warf sich über ihn und umarmte ihn mit wildem Druck.
»Adieu!« sagte sie.
Sie hatten sich verstanden. Der Graf von Vandières fand seine Kräfte und seine Geistesgegenwart wieder, um zur Einschiffung hinunterzuspringen, wohin Stephanie ihm folgte, nachdem sie einen letzten Blick auf Philipp geworfen hatte.
»Major, wollen Sie meinen Platz haben? Ich pfeife aufs Leben« , rief der Grenadier. »Ich habe weder Frau, noch Kind, noch Mutter.«
»Ich vertraue sie dir an« , rief der Major und zeigte auf den Grafen und seine Frau.
»Seien Sie beruhigt, ich werde sie wie meinen Augapfel hüten.«
Das Floß wurde mit solcher Gewalt an das Ufer gestoßen, das der Stelle, wo Philipp unbeweglich stand, gegenüber war, daß sein Stoß an die Erde alles erschütterte. Der an Bord befindliche Graf rollte in den Fluß. Als er hineinfiel, schlug ihm eine Eisscholle auf den Kopf und trieb ihn wie eine Kugel weit weg.
»He! Major!« schrie der Grenadier.
»Adieu!« rief eine Frauenstimme.
Und Philipp de Sucy fiel vor Schreck erstarrt nieder, überwältigt von der Kälte, dem Schmerz und der Müdigkeit.
»Meine arme Nichte war irrsinnig geworden«, fügte der Arzt nach einer kurzen Pause hinzu. »Ach, mein Herr«, fuhr er fort und ergriff Herrn d’Albons Hand, »wie entsetzlich wurde das Leben für diese kleine, so junge, so zarte Frau! Nachdem sie infolge eines unglaublichen Mißgeschicks von dem Gardegrenadier, einem gewissen Fleuriot, getrennt worden war, wurde sie zwei Jahre hindurch hinter der Armee hergeschleppt, als Spielzeug eines Haufens von Elenden. Man hat mir erzählt, daß sie mit bloßen Füßen, schlecht bekleidet, ganze Monate hindurch ohne Pflege, ohne Nahrung blieb; bald in Krankenhäusern gehalten, bald wie ein Tier weggejagt; Gott allein weiss, wieviel Unglück diese Unselige dennoch überlebt hat! Sie befand sich in einer kleinen deutschen Stadt, mit Irrsinnigen zusammengesperrt, während ihre Verwandten, die sie für tot hielten, ihre Erbschaft teilten. Im Jahre 1816 erkannte sie der Grenadier Fleuriot in einer Straßburger Herberge, wo sie angelangt war, nachdem sie eben aus ihrem Gefängnis entwichen war. Einige Bauern erzählten dem Grenadier, daß die Gräfin einen ganzen Monat in einem Walde gelebt hätte und daß sie nach ihr gejagt hätten, um sich ihrer habhaft zu machen und zu ihr gelangen zu können. Ich befand mich damals wenige Meilen von Straßburg entfernt. Als ich von einem wilden Mädchen reden hörte, hatte ich den Wunsch, die ungewöhnlichen Tatsachen festzustellen, die Grund zu so lächerlichen Erzählungen gaben. Wie wurde mir, als ich die Gräfin wiedererkannte! Fleuriot berichtete mir alles, was er von dieser traurigen Geschichte wußte. Ich nahm diesen armen Menschen mit meiner Nichte nach der Auvergne mit, wo ich das Unglück hatte, ihn zu verlieren. Er hatte ein wenig Herrschaft über Frau von Vandières. Er allein konnte bei ihr erreichen, daß sie sich ankleidete. ›Adieu!‹, dieses Wort, worin ihr ganzes Sprechen bestand, sagte sie früher nur selten. Fleuriot hatte es unternommen, einige Gedanken in ihr wieder zu erwecken; aber er war nicht weitergekommen, er hatte sie nur dazu gebracht, dieses traurige Wort etwas häufiger auszusprechen. Der Grenadier verstand sie zu zerstreuen und zu beschäftigen, indem er mit ihr spielte, und auf seine Kunst hoffte ich, aber …«
Der Onkel Stephanies schwieg einen Augenblick. »Hier«, fuhr er fort, »hat sie ein anderes Wesen gefunden, mit dem sie sich zu verstehen scheint. Das ist eine idiotische Bäuerin, die trotz ihrer Häßlichkeit und Stumpfsinnigkeit einen Maurer geliebt hat. Dieser Maurer wollte sie heiraten, weil sie einige Morgen Land besitzt. Die arme Genovefa war während eines Jahres das glücklichste Geschöpf der Welt. Sie putzte sich und ging Sonntags mit Dallot tanzen; sie verstand sich auf die Liebe; es fand sich in ihrem Herzen und in ihrem Geiste Platz für ein solches Gefühl. Aber Dallot stellte seine Überlegungen an. Er fand ein junges Mädchen, das seinen gesunden Verstand und zwei Morgen Land mehr besaß als Genovefa. Da hat Dallot Genovefa stehen gelassen. Das arme Geschöpf verlor das bißchen Intelligenz, das die Liebe bei ihr entwickelt hatte, und versteht sich nun nur noch auf Kühe hüten und Gras schneiden. Meine Nichte und dieses arme Mädchen sind gewissermaßen durch die unsichtbare Kette eines gemeinsamen Geschicks aneinander gebunden und durch das Gefühl, das ihren Irrsinn veranlaßt hat. Hier, sehen Sie«, sagte Stephanies Onkel und führte den Marquis d’Albon ans Fenster.
Читать дальше