»Sie! Mich nicht wiedererkennen und mich fliehen!« wiederholte der Oberst und lehnte den Rücken gegen einen Baum, dessen Blätter eine ländliche Bank beschatteten. Der Doktor verharrte stillschweigend.
Bald kam die Gräfin von dem Gipfel der Tanne sachte von oben herab, indem sie wie ein Irrlicht herabschwankte und sich zuweilen mit den Regungen des Windes mitgehen ließ, die er den Bäumen mitteilte. Bei jedem Aste hielt sie still, um nach dem Fremden auszuspähen; aber da sie ihn unbeweglich sah, sprang sie schließlich auf das Gras, stellte sich aufrecht und kam mit langsamem Schritt quer über die Wiese auf ihn zu. Als sie an einem Baum, ungefähr zehn Fuß von der Bank entfernt stand, sagte Herr Fanjat leise zu dem Obersten:
»Nehmen Sie vorsichtig in meiner rechten Tasche etliche Stücke Zucker und zeigen Sie sie ihr, sie wird dann näher kommen; ich werde zu Ihren Gunsten auf das Vergnügen verzichten, ihr einige Leckereien zu verschaffen. Mit Unterstützung des Zuckers wird sie Sie leidenschaftlich lieben, Sie werden sie gewöhnen, Ihnen näher zu kommen und Sie wieder zu erkennen.«
»Als sie ein echtes Weib war,« antwortete Philipp traurig, »hatte sie gar keinen Geschmack für Süßigkeiten.«
Als der Oberst Stephanie mit dem Stückchen Zucker winkte, das er ihr mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand hinhielt, stieß sie einen neuen wilden Schrei aus und eilte auf Philipp zu; dann blieb sie stehen, von der instinktiven Furcht bewegt, die sich ihr aufdrängte; abwechselnd betrachtete sie den Zucker und wandte den Kopf ab, wie die armseligen Hunde, denen die Herren verbieten, an ein Gericht zu rühren, bevor man ihnen einen der letzten Buchstaben des Alphabets nennt, das man langsam rezitiert hat. Endlich siegte die tierische Leidenschaft über die Furcht: Stephanie stürzte sich auf Philipp, streckte schüchtern ihre hübsche braune Hand aus, um die Beute zu ergreifen, berührte die Finger ihres Geliebten, packte den Zucker und verschwand in einem Gebüsch des Waldes. Diese schauderhafte Szene schlug den Obersten vollends danieder, der in Tränen ausbrach und sich in seinen Salon flüchtete.
»Verleiht die Liebe denn weniger Mut als die Freundschaft?« sagte Herr Fanjat zu ihm: »Ich habe noch Hoffnung, Herr Baron. Meine arme Nichte war in einem viel bedauernswerteren Zustande, als dem, in dem Sie sie sehen.«
»Ist das noch möglich?« rief Philipp aus.
»Sie war nackt geblieben«, erwiderte der Mediziner. Der Oberst machte eine Schreckensgebärde und erbleichte; der Doktor glaubte in dieser Blässe einige bösen Symptome zu erkennen: er faßte ihm den Puls und fand ihn einem heftigen Fieber ausgeliefert; auf ernstliches Drängen gelang es ihm, ihn ins Bett zu bringen, und er bereitete ihm eine leichte Dosis Opium, um ihm einen ruhigen Schlaf zu verschaffen. So verliefen ungefähr acht Tage, während deren der Baron von Sucy oft mit tödlicher Angst kämpfte; bald fanden seine Augen keine Tränen mehr. Seine oft erschütterte Seele vermochte sich nicht an das Schauspiel zu gewöhnen, das ihm der Irrsinn der Gräfin darbot; aber er fand sich in gewissem Sinne mit der grausamen Lage ab und erblickte in seinem Schmerze einen Trost. Sein Heroismus kannte keine Grenzen. Er fand den Mut, Stephanie zu zähmen, indem er ihr Süßigkeiten aussuchte; er gab sich solche Mühe, ihr diese Nahrung herbeizubringen, er verstand es, die bescheidenen Eroberungen, die er dem Instinkt seiner Geliebten diesen letzten Rest ihrer Intelligenz aufdrängen wollte, so vorsichtig abzumessen, daß es ihm gelang, sie vertraulicher zu machen, als sie es jemals gewesen war.
Der Oberst stieg jeden Morgen in den Park hinunter; und wenn er, nachdem er lange Zeit nach der Gräfin gesucht hatte, nicht ahnen konnte, auf welchem Baum sie sich leicht wiegte, noch in welchem Winkel sie geklettert war, um hier mit einem Tier zu spielen, noch auf welches Dach sie geklettert war, so pfiff er den berühmten Marsch: Partant pour la Syrie, woran sich die Erinnerung an eine Szene ihrer Liebe kettete. Sogleich lief Stephanie mit der Leichtigkeit eines jungen Rehs herbei. Es war ihr so natürlich geworden, den Obersten zu sehen, daß er sie nicht mehr erschreckte; bald gewöhnte sie sich daran, sich neben ihn zu setzen, ihn mit ihrem mageren beweglichen Arm zu umfassen. In dieser, den Liebenden so teuren Haltung, gab ihr Philipp langsam einiges Zuckerzeug, für das die Gräfin eine Vorliebe hatte. Wenn sie alles aufgenascht hatte, geschah es zuweilen, daß Stephanie die Taschen ihres Freundes mit Gesten durchforschte, die die mechanische Schnelligkeit eines Affen zeigten. Wenn sie ganz sicher war, daß er nichts mehr darin hatte, betrachtete sie Philipp mit klarem Auge, ohne Gedanken, ohne ein Wiedererkennen; sie spielte dann mit ihm; sie versuchte dann, ihm die Stiefel wegzunehmen, um seinen Fuß anzusehen, sie zerriß seine Handschuhe, setzte seinen Hut auf; sie ließ ihn seine Hände in ihr Haar stecken, erlaubte ihm, sie in seine Arme zu nehmen, und empfing ohne Vergnügen glühende Küsse. Endlich sah sie ihn schweigend an, wenn er Tränen vergoß; sie begriff wohl den Pfiff von Partant pour la Syrie, aber es wollte ihm nicht gelingen, sie ihren eigenen Namen »Stephanie« aussprechen zu lassen. Philipp wurde bei seinem schrecklichen Unternehmen in einer Hoffnung festgehalten, die ihn niemals verließ. Wenn er an einem schönen Herbstvormittag die Gräfin ruhig auf einer Bank sitzend sah, unter einem gelb gewordenen Pappelbaum, lagerte sich der arme Liebende zu ihren Füßen und sah ihr so lange in die Augen, als sie ihn hineinsehen ließ, in der Hoffnung, daß das Licht, das ihr daraus entschlüpfte, wieder zur Vernunft werden würde. Manchmal bildete er sich etwas ein: er glaubte die harten und unbeweglichen Züge von neuem zitternd, weich und lebendig werden zu sehen und rief aus: »Stephanie! Stephanie! Du verstehst mich, du siehst mich!« Aber sie hörte den Ton seiner Stimme wie ein Geräusch, wie die Wirkung des Windes, der die Bäume bewegte, wie das Brüllen der Kuh, auf die sie kletterte; und der Oberst rang verzweifelt seine Hände, immer von neuen verzweifelt. Die Zeit und seine vergeblichen Versuche vermehrten nur seinen Schmerz. Eines Abends, bei ruhigem Himmel und inmitten des Schweigens und Friedens des ländlichen Asyls, bemerkte der Doktor von fern, wie der Oberst eine Pistole lud. Der alte Arzt begriff, daß Philipp keine Hoffnung mehr hatte; er fühlte, wie alles Blut ihm zu Herzen floß, und wenn er den Schwindel, der sich seiner bemächtigte, widerstand, so geschah es, weil er lieber seine Nichte lebend und irre sehen wollte als tot. Er lief herzu.
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