Die Straße sah sie erst, als der Schwarze mit einem Satz den Straßengraben übersprang. Er blieb stehen und spitzte schnaubend die Ohren. Frostiger Dampf stieg von seinen Nüstern.
Lianna sah sich um, doch der wirbelnde Schnee, der sie umgab, ließ wenig erkennen. War das überhaupt die richtige Straße? Alles sah fremd aus. In welche Richtung musste sie reiten? Konnte sie sich etwa so verirren, dass sie vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr aus dem Wald herausfand?
Sie atmete tief durch und wischte sich geschmolzenen Schnee aus dem Gesicht. Dies musste die richtige Straße sein – wie viele davon sollte es geben in einem Wald am Ende der Welt, der sich zwischen zwei bedeutungslosen Kleinstädten erstreckte? Und das wiederum bedeutete, dass sie jedenfalls unter Menschen landen würde, wenn sie dem Weg nur lange genug folgte.
Sie trieb den Schwarzen an und wandte sich nach rechts. Nach geraumer Zeit meinte sie, etwas vage Bekanntes in der Umgebung aufzufangen: der Baum mit dem dicken, abgebrochenen Ast, die sanfte Wegbiegung, die über eine Hügelkuppe führte. Wenn sie sich nicht täuschte, war sie ganz in der Nähe des merkwürdigen Steins. Hier war sie zuletzt gewesen, als kaum eine Puderschicht Schnee die matschige Schicht aus vermodernden Blättern bedeckt hatte.
Sie kniff die Augen zusammen und musterte die Bäume zu ihrer Rechten, und bald sah sie ein schwaches Aufschimmern der metallenen Opfergaben zwischen den Ästen. Sie saß ab und versank augenblicklich bis zum Knie im Schnee. Den Schwarzen am Zügel, näherte sie sich der Stelle, wo der Stein unter dem Schnee begraben war. Zu ihrem Erstaunen war kürzlich jemand hier gewesen: Der Schnee war aufgewühlt, Fußstapfen führten rund um den Stein und in Richtung Wiesenheim davon. Der Besucher hatte Schnee vom Rand des Steins gewischt und seine Gaben hinterlassen: ein Schälchen mit Milch, zwei kleine, flache Brote und eine Lederschnur mit einem grob geschnitzten Holzsymbol. Lianna streifte einen Handschuh ab und tauchte einen Finger in die Milch. Sie war noch warm. Lianna nahm einen Schluck davon und brach sich ein Stück von dem Brot ab. Es war grob und enthielt jede Menge Spelz und offensichtlich keinerlei Salz. Sie spie den Bissen aus und spülte mit Milch nach.
Mit der behandschuhten Hand strich sie die dicke Schneehaube beiseite und suchte nach dem achtzackigen Stern. Wie schon so oft, fuhr sie die Linien nach.
Sie war sicher, Thork würde sehen, was sie übersah.
Mit Gewalt drängten die Tränen nach oben, die sie über die letzten Wochen zurückgehalten hatte. Sie schlug mit der flachen Hand auf den Stein und zog die Nase hoch.
Wann, bei allen Göttern der Verdammnis, würde sie aufhören, sich so wund zu fühlen?
»Heda!«
Lianna sprang auf und riss die Schwerthand an die Seite, aber da war nichts als kalte Luft. Vor ihr, wie aus dem Boden gewachsen, standen zwei Männer – Bauern, der ärmlichen Kleidung nach zu urteilen. Einer der beiden hielt ein rostiges Holzbeil drohend vor sich.
»Habt Ihr mich erschreckt!«
Lianna atmete tief durch und sah sich nach dem Schwarzen um. Der stand ein paar Schritte abseits und zuckte nervös mit den Ohren.
»Was macht Ihr da?«, fragte der mit dem Beil.
»Ausruhen. Es war ein langer Ritt. Ich bin vom Weg abgekommen.«
Der zweite Bauer, dessen untere Gesichtshälfte von einem fusseligen Bart bedeckt wurde, beugte sich zu seinem Begleiter.
»Die ist von dem Zigeunerpack«, murmelte er vernehmlich. »Schau dir mal den Gaul an.«
Lianna machte einen Schritt rückwärts und stieß mit den Hacken gegen den Stein.
»Die ruht nicht aus«, sagte der Fusselbart. »Die klaut unsere Opfer!« Er zeigte auf das Brot, von dem ein Stück fehlte.
»Ich war das nicht!«, verteidigte Lianna sich. »Meint Ihr, ich hätte es nötig, Euer armseliges, schimmeliges Brot zu stehlen?«
»Zigeuner stehlen alles«, sagte der mit dem Beil feindselig. »Kinder, Ernte, Opfergaben. Kühe. Weißt du noch, wie die Kuh vom Schwarzmann verschwunden ist? Das war, kurz nachdem die hier in der Gegend aufgetaucht sind.«
»Wir haben Eure blöde Kuh nicht! Und jetzt lasst mich gehen.«
»Bleib, wo du bist, Mädchen.«
Der mit der Axt schien überlegen zu müssen, was er aus dieser unverhofften Begegnung machen wollte. Der Fusselbart hingegen hatte sich schneller entschlossen.
»Wir nehmen den Gaul«, sagte er. »Als Ersatz für die Kuh vom Schwarzmann.«
»Nähert Euch, und er wird Euch die Knochen zu Klump hauen!«, fauchte Lianna.
Der Fusselbart zog einen mit Lumpen umwickelten Fuß aus dem Schnee und machte einige ungeschickte Schritte in Richtung des Schwarzen, wobei er die Arme hochriss, um das Gleichgewicht zu behalten. Der Schwarze warf den Kopf hoch und wich zurück.
»Steh!«, schrie Lianna. »Steh!«
Der Fusselbart hechtete vorwärts und versuchte, die Zügel zu packen. Da der Schwarze aber gleichzeitig einen Satz zur Seite machte, ging sein Griff ins Leere. Mit schlagenden Steigbügeln galoppierte der Schwarze davon, eine Schneefontäne hinter sich lassend. Lianna fluchte blumig hinter dem Schwarzen her – er würde sich nicht weit von ihr entfernen, aber diese Schmach! Dieser Verrat! - was unklug war, denn für Augenblicke nahm sie den Blick von dem Mann mit der Axt. Als sie sich ihm wieder zuwandte, stand er direkt vor ihr und übergoss ihr Gesicht mit seinem schlechten Atem.
»Dann nehmen wir die hier«, sagte er und zeigte grinsend sein schwarz verfärbtes, lückenhaftes Gebiss. »So wie die aussieht, hat sie sicher etwas Wertvolles dabei.«
Ihr Essmesser! Es steckte noch in ihrem Gürtel unter dem Mantel. Liannas Hand fuhr zwischen die Knöpfe, doch ihre Finger waren zu kalt, um ihr zu gehorchen. Während sie noch unter ihrem Mantel herumtastete, legte der Mann ihr die Axt an die Kehle.
»Keine Bewegung!«
Lianna ließ Atem ausströmen. Diese beiden meinten es scheinbar ernst.
»Bitte, lasst mich gehen.«
Kleinmädchenstimme, zitternde Unterlippe und große, runde Augen. Den Gegner in Sicherheit wiegen.
Der Mann mit der Axt nickte.
»Sicher tun wir das. Sobald du uns gegeben hast, was in deinen Taschen ist.«
»Ich kann nachsehen – wenn du die Axt wegnimmst ...«
Zögernd senkte der Mann die Axt. Lianna steckte die Hände in de Taschen, verlagerte ihr Gewicht vorsichtig nach hinten, dann riss sie den Fuß hoch und trat mit aller Macht nach der Hand, die das Beil führte. Der Mann kreischte auf. Die Axt wirbelte im hohen Bogen durch die Luft und wurde lautlos vom Schnee geschluckt. Während der andere sich noch fluchend die Hand hielt, gelang es Lianna endlich, ihr Essmesser unter dem Mantel zu befreien. Ein Schritt rückwärts brachte sie auf die Steinplatte, und sie hielt das Messer schützend vor sich.
»Ich bin eine Trollbezwingerin«, sagte sie. »Und ihr zwei traurigen Gestalten macht euch am besten schleunigst aus dem Staub, ehe ich euch Beine mache!«
Der eine kroch durch den Schnee, auf der Suche nach seiner Axt, doch der andere hatte sich inzwischen einen armdicken, abgebrochenen Ast gegriffen, mit dem er nun versuchte, Lianna von ihrem Stein zu stoßen.
»Man klaut keine Opfergaben«, knurrte er. »Das macht man nicht, Mädchen! Das erzürnt die Götter. Hat man dir das nicht beigebracht?«
»Du glaubst ehrlich, du könntest die Götter besänftigen, mit diesen armseligen Almosen?«
»Es kommt auf das an, was du im Herzen hast! Du hast kein Herz! Und jetzt geh da runter!«
Der Fusselbart stieß seinen Ast in ihre Richtung, und nur eine rasche Abwehr verhinderte, dass sie das zersplitterte Ende ins Gesicht bekam. Der Ast bohrte sich in ihre Hand, rutschte ab und hinterließ einen tiefen Kratzer, aus dem Blut quoll. Die Kälte betäubte den Schmerz, und erstaunt verfolgte Lianna, wie sich ein dicker, dunkler Blutstropfen löste und auf den Stein fiel.
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