Erin hielt Lianna das Ende der Stoffbahn über die Schulter, zupfte und legte Falten, während sie unablässig über Schnitt und Raffung sprach. Der Stoff floss durch Liannas Hände, kühl und schwer wie Wasser. Ihn zu tragen würde sich anfühlen wie Ertrinken.
»Ich weiß nicht, ob ich Arik heiraten soll«, hörte sie sich sagen.
Erin hielt inne.
»Aber natürlich sollt Ihr das, Schätzchen. Er ist Euch seit vielen Jahren versprochen.«
»Ein Fehler wird nicht dadurch besser, dass man ihn lange macht.«
Behutsam nahm Erin den Stoff von Liannas Schulter.
»Was ist los, Liebes? Gibt es einen anderen?«
Lianna nickte, während ihr Atem ihr im Hals versickerte.
Erin seufzte.
»Es gibt immer einen anderen. Entscheidend ist nur, dass Ihr bei dem einen bleibt, der Euer Vertrauen genießt. Der Euch versprochen wurde, vor langer Zeit. Ihr müsst standhaft bleiben, das stärkt den Charakter.«
»Dann findest du es nicht schlimm, dass ...?«
»Schätzchen, Ihr seid nicht die erste Braut, die vor der Hochzeit Muffensausen bekommt, und Ihr werdet nicht die letzte sein.«
Lianna nickte zögernd.
»Ich weiß nicht, ob es nur das ist. Der andere ist ... so ... fürsorglich. Er fordert nichts. Er ist so ... welterfahren, obwohl er ein Sesshafter ist. Gegen ihn wirkt Arik wie ein Kind.«
»Der Mann aus den Ebenen?«
Lianna nickte.
»Kein Mann kann Euch alles geben, Liebes. Etwas wird immer fehlen. Ihr müsst Euch nur denjenigen aussuchen, mit dessen Lücken Ihr leben könnt.«
»Ich habe mir gar niemanden ausgesucht! Arik wurde mir ... zugeteilt ... wie wir einen besonders wertvollen Hengst für eine hübsche Stute aussuchen!«
Erin schüttelte den Kopf und legte sanft die Hand auf Liannas Mund.
»Ihr habt ihn ausgesucht, Lianna. Als Ihr vier oder fünf Jahre alt wart – Eure Mutter hat noch gelebt, möge sie bei den Göttern ruhen – habt Ihr mit Arik Verstecken in den Kornfeldern gespielt. Ihr habt ihn auf den Mund geküsst und dabei gestrahlt wie die liebe Sonne. Mit neun Jahren habt Ihr von Pferd zu Pferd seine Hand gehalten, und mit elf oder zwölf habt Ihr die kleine Jula verprügelt, die es wagte, seine schönen blonden Haare zu streicheln. Ihr habt ihn ausgesucht. Ihr wisst es nur nicht mehr.«
Lianna nickte zögernd. Erin nahm die Hand von ihrem Mund und zog sie an sich.
»Armes Mädchen. Euch fehlt eine Mutter. Ich tue, was ich kann, aber sie ist nicht zu ersetzen.«
Lianna legte die Wange an Erins Schulter und ließ sich sanft wiegen.
Mit welcher Lücke würde sie leben können? Sollte sie sich das linke oder das rechte Bein abhacken lassen?
»Ich muss raus hier«, sagte sie und schob Erin von sich. »Ich brauche Bewegung.«
»Draußen herrscht Schneetreiben!«
»Macht nichts. Ich bin bald zurück, keine Sorge.«
In aller Eile hüllte Lianna sich in ihre Winterausrüstung: Pelzmantel und Kappe, hohe, gefütterte Stiefel, schafswollene Handschuhe und ein langer Schal, den sie sich übers Gesicht ziehen konnte, wenn der Wind zu heftig blies. Erin sah zu und wagte noch einige Einwände, die Lianna an sich abprallen ließ. Wie sollte sie einen klaren Gedanken fassen, wenn sie bis zum Hals im Durcheinander steckte? Wenn man andauernd auf sie einredete? Rund um die Uhr gab es jemanden, der etwas von ihr wollte. Niemand fragte, was sie wollte. Sie brauchte Abstand, Luft zum Atmen, oder sie würde nie einen klaren Gedanken fassen können.
Sie stürmte aus dem Wagen und über den flach getrampelten Schnee hinüber zu den Weiden. Einen sehr überraschten Pferdejungen wies sie an, den Schwarzen zu satteln, und fasste selbst mit an, als es ihr nicht schnell genug ging. Der Schwarze fing ihre Unruhe auf, keilte aus, als sie den Sattelgurt anzog, und zwickte den Pferdejungen unsanft in die Jacke.
Behindert durch ihre dicke Kleidung, ließ Lianna sich in den Sattel helfen. Kaum saß sie, trieb sie den Schwarzen vorwärts, und mit gewaltigen Sätzen, als sei ein wildes Tier hinter ihm, hielt er auf die Straße zu.
Er wurde von selbst langsamer, als er sich durch eine Schneewehe hinauf zu einer Linie von Bäumen pflügte, die den Verlauf der Straße markierten. Zu dieser Jahreszeit verlief zwischen den Bäumen nicht mehr als ein verwehter, eisiger Trampelpfad im Schnee, hauptsächlich von den Sidarthi getreten, die am nahen Waldrand Feuerholz besorgt hatten. Die Sesshaften machten ihrem Namen alle Ehre und saßen in ihren Häusern, vermutlich, bis der Frühling kam. Wenn sie dann ins Freie krochen und feststellten, dass in ihren Wäldern einige Bäume fehlten, wäre die Ranessa-Sippe längst über alle Berge.
Frühling. Bis dahin wäre sie mit Arik verheiratet. Die Varellan würden damit zur zweitwichtigsten Familie aller Sidarthi aufsteigen, Arik zum zweitwichtigsten Mann gleich nach Van Ranessa, und nach dessen Tod würde er die Geschicke aller Sidarthi in Abrantes leiten. Er, nicht sie.
Warum musste sie überhaupt heiraten? Warum konnte sie nicht alleine die Sidarthi anführen? Eine Kriegskönigin, schön und stark und mutig und niemandem Rechenschaft schuldig. Die Vorstellung gefiel ihr. Probeweise spürte sie die süße, heroische Einsamkeit dieser Rolle. Es war ein starkes Gefühl.
Sie erreichte die ersten Bäume, die ein wenig Schutz vor dem dichten Schneefall boten. Lianna zügelte den Schwarzen, der unwillig mit dem Kopf schlug. Wenn sie ihn zu sehr rennen ließ, würde er ins Schwitzen geraten und sich mit durchnässtem Fell den Tod holen. Sie klopfte seinen Hals. Ihr edles, blankschwarzes Ross sah mit seinem dichten Winterfell aus wie ein zotteliger Bär, aber sein wildes Temperament war alles andere als im Winterschlaf.
Sie lenkte ihn bergauf, zwischen schneebepackten Tannen hindurch, die aussahen wie massive weiße Kegel, vorbei an hohen alten Buchen, an deren Wetterseite der Schnee klebte. Es war still. Der Schnee schluckte die Schritte des Schwarzen. Unablässig rieselten die Flocken auf Pferd und Reiterin herunter.
Irgendwo dort oben im Wald verlief die Straße nach Wiesenheim, vermutlich nur erkennbar an einem flachen Einschnitt zwischen den Bäumen. Die konnte sie als Orientierung nehmen und, wenn ihr nichts anderes einfiel, auf ihr nach Wiesenheim reiten. In ihrer Tasche hatte sie einige silberne Halbkronen. Genug, um eine Mahlzeit, ein Bett und einen Stallplatz zu bezahlen, falls sie keine Lust hatte, bis heute Abend ins Lager zurückzukehren.
Nach einiger Zeit gelangte sie an den Fuß eines felsigen Abbruches, der sie zwang, nach Westen abzubiegen und seitlich zum Hang weiterzureiten. Der Abbruch wuchs sich zu einer respektablen Klippe aus; sie musste den Kopf in den Nacken legen, um die Bäume am oberen Rand erkennen zu können, und unablässig schneite es. Dann begann das Gelände am Fuß des Felsens, langsam, aber stetig abzufallen. Dichtes Gebüsch und niedrige Tannen drängten sie vom Fels ab und weiter den Berg hinunter.
Der Schwarze dampfte mittlerweile in der kalten Luft, obwohl Lianna behutsam ritt. Auch ihr war unangenehm warm unter ihren Pelzen. Von Weg oder Straße war keine Spur, und je weiter sie ritt, desto unwegsamer wurde das Gelände. Alte, gelbe Tannennadeln hatten sich in der Mähne des Schwarzen verfangen, und er stapfte unwillig durch den tiefen Schnee.
Doch Lianna wollte nicht umkehren. Sie wollte die Straße nach Wiesenheim finden, in die Stadt reiten und sich unter die Sesshaften mischen, und sie hatte nicht die geringste Lust, sich das Gekletter und den Kampf mit schneebeladenem Gebüsch erneut anzutun. Nach vorne musste es einfacher und schneller gehen. Sie trieb den Schwarzen den Hang hinunter, einem Dornengestrüpp ausweichend, bis sich endlich eine Schneise bot, die es ihr erlaubte, über felsiges Gelände wieder bergauf zu reiten.
Sie erreichte das Ende des Felsabbruches und gelangte zwischen verschneiten Findlingen endlich hinauf in ebenes Gelände. Die Bäume standen weniger dicht und ließen sie bereitwillig passieren.
Читать дальше