»Meister Eisenfels«, sprach er ihn an. Der andere hatte ihn offenbar nicht kommen hören, denn er schrak auf und kam von seinem Hocker hoch, wobei er leicht schwankte.
Melnir trat einen Schritt näher.
»Ich will mich nach der Streitaxt für meinen Sohn erkundigen«, sagte er. »Das wollte ich gestern schon, aber aus unerfindlichen Gründen hattet Ihr geschlossen.«
»Gestern«, murmelte der Schmied, der sich schwer an die gemauerte Wand der Esse lehnte. »Ich war ... krank, gestern. Tut mir leid, dass Ihr den Weg umsonst gemacht habt.«
Melnir musterte den Schmied. Er hatte plötzlich eine recht lebhafte Vorstellung von der Art dieser Krankheit. Der unstete, verschwollene Blick des Mannes und sein Schwanken verrieten ihn.
»Nun, dann freut es mich zu sehen, dass Ihr wieder auf den Beinen seid«, log Melnir. »Wie steht es denn mit der Axt?«
Der Schmied sah ihn an mit einem Blick, der von weither kam.
»Welche Axt?«
»Die Axt, die ich letzte Woche für meinen Sohn in Auftrag gegeben habe.«
»Ich weiß nichts von einer Axt«, murmelte der Schmied.
»Na großartig«, schnaubte Melnir. »Drei Wege hinauf in dieses scheußliche Wetter und eine Woche Zeit verloren, für nichts! Ich bedanke mich wirklich für das Entgegenkommen!«
»Schreit hier nicht herum«, sagte der Schmied mit schwerer Zunge. »Das ist mein Haus. Hier wird nicht geschrien.«
»Dann sag‘ ich’s Euch ganz leise«, erwiderte Melnir wütend. »Betrachtet den Auftrag als gekündigt! Ich werde mir einen anderen Schmied suchen, der zuverlässig arbeitet und seine Vereinbarungen einhält, anstatt sich zu betrinken!«
»Das könnt Ihr gerne tun«, sagte der Schmied gleichgültig und ließ sich wieder auf seinen Hocker zurückfallen. »Schließt die Tür, wenn Ihr geht.«
Melnir zog die Tür so heftig hinter sich ins Schloss, dass die Holzbohlen krachten.
»Das hätte ich dir vorher sagen können«, ließ er sich am Abend von Keldor Steinschläger belehren, als er mit ihm und einer Handvoll seiner Freunde im Gasthof zum Goldenen Fass saß und den Vorfall besprach. »Mit dem ist nichts mehr anzufangen. Frag mal die Bedienung, wie oft die den in letzter Zeit völlig betrunken raus auf die Straße geschafft haben. Und nicht nur hier, auch drüben in der Ruhigen Einkehr. Total betrunken, sagen die. Das weiß doch jeder.«
»Ich wusste es nicht«, sagte Melnir. »Ich wusste nur, dass er der beste Klingenschmied weit und breit sein soll.«
»Kann ja sein«, mischte sich Bjor Höhlner ein und nahm einen Schluck aus seinem Bierkrug. »Nützt nur nichts, wenn er ein Säufer ist.«
»Er war schon immer sehr eigenartig«, fuhr Keldor fort. »Unfreundlich, ich sag’s euch. Ein echter Einzelgänger. Ich hatte mal kurz mit ihm zu tun, aber ich war froh, als das vorbei war. Er hat eine Art, also, ich weiß nicht. Fremdartig.«
»Genau«, sagte Bjor. »Und immer diese Reisen. Unsteter Lebenswandel, das. Sollte er nicht eigentlich sowieso bei den Gròrbrüdern im Orden leben? Als Priester, meine ich? Das sollte er tun, finde ich. Jeder dort, wo er hingehört.«
»Man sagt, er verfügt über irgendwelche Kräfte«, fügte Keldor an. »Also, ich finde das bedenklich. Vielleicht besser, dass ein anderer Schmied die Axt für deinen Sohn anfertigt, Melnir. Wäre vielleicht eine verhexte gewesen, sonst.«
»Jetzt mal langsam«, bremste Melnir, dem die Spekulationen seiner Freunde zu weit gingen. »Nur weil einer ein Einzelgänger ist, muss er nicht gleich ein Hexer sein.«
»Ich frage mich, warum er dann ein solcher Einzelgänger ist«, sagte Keldor und setzte mit Nachdruck seinen Krug auf dem Tisch auf. »Müsste er doch nicht, wenn er nichts zu verbergen hätte.«
»Genau«, bekräftigte Bjor.
»Lasst uns von etwas anderem reden«, bat Melnir, dem das Gespräch aufs Gemüt schlug. »Woher bekomme ich nun auf die Schnelle einen guten Schmied?«
Mit dem ersten Schnee trafen die Sidarthi in ihrem Winterlager bei Wiesenheim ein. Heftige Regenfälle hatten die Straßen beinahe unpassierbar gemacht. Erst nach einem Kälteeinbruch, als der tiefe Morast gefroren war, hatten sie mit den schweren Wagen die letzte Wegstrecke zurücklegen können. Sie steckten mit angespitzten Pflöcken und Seilen Winterweiden ab, ließen die Herden darauf und errichteten Unterstände aus roh zugesägten Brettern, die den Pferden ein gewisses Maß an Schutz vor den Winterstürmen bieten sollten. Ganz gegen ihre sonstigen Gewohnheiten half Lianna bei der schweren Arbeit. Die körperliche Betätigung lenkte sie ab und machte sie müde, so dass sie nachts ruhiger schlief. Alles war ein wenig einfacher, seit Arik wieder abgereist war.
Mit der Zeit stellte sich die gleichmäßige Routine des Winterlagers ein. Den Pferden reichte das alte Gras nicht, das sie unter dem Schnee frei scharrten, sie mussten gefüttert werden und benötigten gleichmäßige Bewegung, um ihre Kondition beizubehalten. Lianna verbrachte täglich mehrere Stunden damit, einige der schweren, kräftigen Wagenpferde zu reiten, die im Winterlager keine Aufgabe hatten. Noch immer unternahm sie gelegentliche Ausflüge zu dem rätselhaften Stein im Wald, aber der Ritt vom Winterlager dorthin war lang, und ihr Interesse erlahmte allmählich, nachdem es ihr immer noch nicht gelungen war, das Rätsel des Steins zu entschlüsseln. Es mochte vielleicht gar keines geben. Vielleicht war der Stein nicht mehr als eine Markierung aus alten Zeiten, eine Gedenkstätte, an der alter Aberglaube klebte.
Mehr als zwei Monde waren nun vergangen, seit sie Thork zuletzt gesehen hatte. Die Erinnerung begann, sich zu verwischen. Hatte er seine Augenklappe links oder rechts getragen? Wie war der Klang seiner Stimme gewesen? Hatte sie ihn jemals lachen hören, oder schloss ihre Vorstellungskraft hier eine Lücke?
Was sie über ihn wusste, bestand zum größten Teil aus Lücken. Sie fand es beschämend, wie viel sie von sich gesprochen hatte in der kurzen Zeit, die ihnen vergönnt gewesen war. Und er hatte es sich gefallen lassen, hatte geduldig ihrem Geplapper gelauscht, hatte auf ihre Schritte im Gebirge geachtet und sie nachts in der Dunkelheit behütet. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie ihre Hände sich erinnern lassen, wie sein kurzer Bart sich angefühlt hatte, sein struppiges, fuchsrotes Haar.
Wenn sie sich anstrengte, konnte sie sich daran erinnern, wie leicht sie sich gefühlt hatte.
Sie wusste nicht, ob das Vergessen ein Segen war oder ein Fluch.
Am Tag der Jahreswende begann es erneut zu schneien, und diesmal schien es dem Winter ernst zu sein. Fluten von dicht wirbelnden Flocken wurden aus dem schweren, grauen Himmel über dem Wagendorf ausgeschüttet. Die Pferde drängten sich missmutig in ihren Unterständen und sahen mit ihrem fingerlangen, schneebestäubten Winterpelz aus wie urtümliche Fabelwesen.
Gegen Mittag kam Erin in Liannas Wagen, einen großen, in Sackleinen gehüllten Klumpen im Arm. Sie war vom Schnee bestäubt und klopfte ihr Tuch über dem Feuer ab, ehe sie den unförmigen Klumpen von seiner Umhüllung befreite.
»Seht her«, sagte sie stolz. »Der Stoff für Euer Hochzeitskleid. Solange wir hier einschneien, kann ich genauso gut mit dem Nähen beginnen.«
Lianna schluckte einen Bissen Brot, der ihr im Mund plötzlich zu Holzwolle geriet. Erin schüttelte den Stoff auf dem Bett zurecht. Er war von einem tiefen Meerblau, fein gewebt und schimmernd, und Erin hatte passende Borten und Pelze zur Verbrämung ausgewählt, die sie nun auf dem Stoff drapierte.
»Schön«, sagte Lianna heiser.
Erin strahlte.
»Habe ich Euch überrascht? Ich war gestern noch in der Stadt, um ihn abzuholen. Es war fast kein Durchkommen auf der Straße. Gefällt er Euch?«
»Er ist ... großartig.«
»Es sind dreißig Ellen. Wir können einen richtig weiten Rock draus machen, und vielleicht noch eine Schleppe. Hier, lasst Euch ansehen.«
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