Sie kletterte aus dem Loch. Ihre Stiefel waren mit Erde verklumpt. Der Schwarze stand an einen Baum gebunden und beobachtete die Unternehmungen seiner Herrin mit sichtlichem Unbehagen. Sie wischte sich die Hände an seiner Mähne ab.
Vielleicht würde sie das Rätsel um den Stein nie lösen. Vielleicht war sie auch nur so besessen davon, damit ihr Verstand sich nicht mit anderen Dingen beschäftigen musste. Sie hätte gerne eine Entdeckung gemacht, ein Abenteuer erlebt, einen Geist auf diesem Altar beschworen oder den Zugang in ein unterirdisches Märchenreich entdeckt, nur um sich abzulenken, aber hier war sie mit ihren Ideen am Ende, und der Wind fuhr ihr mit eisigen Fingern unter die verschwitzte Kleidung.
Sie warf den Spaten ins Gebüsch, schwang sich in den Sattel und ritt davon.
Einige Tage später traf Arik mit seinem Gefolge ein. Lianna verpasste seine Ankunft, weil sie wieder einmal Zeit an »ihrem Stein« verbracht hatte. Seit der Buddelei waren neue Opfergaben dort aufgetaucht, kleine Fladenbrote, getrocknete Kräutersträuße und Äpfel, und mit roter Farbe bemalte Hühnerknochen baumelten an Schnüren von den niedrigen Zweigen. Vermuteten die Bauern in der Umgebung einen Wiedergänger, der die Erde dort aufgewühlt hatte? Lianna verspürte Bedauern bei dem Gedanken, allerdings nicht genug, um ihre Nachforschungen zu unterlassen. Die Äpfel hatte sie sich mit dem Schwarzen geteilt und hoffte nun, dass die Bauern sich beruhigen würden.
Als sie sich dem Lager näherte, sah sie schon von weitem den Tross aus Reit- und Packpferden, allen voran ein prächtiger, hochbeiniger Schimmel, dem gerade ein Wassereimer vorgehalten wurde.
Etwas, das sie nicht benennen wollte, machte ihre Kehle eng. Sie schluckte an dem hässlichen Klumpen und probte ihr Lächeln, während sie ins Lager ritt.
Die Umstehenden ließen sie durch. Zwischen den Wagen stand Arik neben ihrem Vater, groß und schlank, sein welliges blondes Haar glänzte in der Sonne, und sein Gesicht erstrahlte, als er Lianna sah.
»Meine Liebste! Endlich!«
Mit raschen Schritten war er bei ihr und griff den Schwarzen am Zügel. Sie saß ab, trat zu ihm und schlang ihm gehorsam die Arme um den Hals. Er drückte sie an sich, während sie versuchte, etwas Vertrautes in dieser Umarmung zu finden, doch die Erinnerung an seine Berührung war von ihrem Körper getilgt.
»Ich bin so glücklich, dich zu sehen«, flüsterte er in ihr Ohr. »Meine dumme, heldenhafte, kleine Prinzessin. Mach so was bloß nie wieder.«
Sie trat zurück und sah ihn an, sah in sein schönes, ebenmäßiges Gesicht, versuchte, sich zu erinnern, was sie vorher bei seinem Anblick empfunden hatte, doch sie blieb leer.
»Schön, dass du da bist«, log sie und lächelte ihn an. Sie würde nicht nachdenken. Sie würde einfach alles tun, was man von ihr erwartete. Sie würde die Prinzessin spielen, damit kannte sie sich aus.
Das Fest, das rund um sie allmählich Fahrt aufnahm, bewahrte sie zunächst davor, mit Arik alleine sein zu müssen. Angeregtes Geplauder, ein Besuch bei den Herden, der Austausch über die Lernfortschritte einzelner Pferde – all das konnte sie mit Leichtigkeit erfüllen.
Ihr gefiel, wie er sich um sie bemühte. Er ließ ihre Hand kaum jemals los, sein Blick lag auf ihr, wohin sie auch ging, und er überschüttete sie mit Komplimenten. Er teilte ihre Liebe zu den Pferden, und sie sah es gerne, wie behutsam er mit ihnen umging. Das Gespräch floss leicht und mühelos zwischen ihnen, und mit Erstaunen stellte sie fest, dass er sie immer noch zum Lachen bringen konnte. Als er die Geschichte vom Troll in allen Einzelheiten zu hören verlangte, beschloss sie, ihn auf die Probe zu stellen.
»Ich hatte Hilfe«, sagte sie. »Ein Mann aus den Ebenen. Der Troll hat ihm vor Jahren sein Auge genommen, und er war auf Rache aus, genau wie ich.«
Arik nickte abwartend.
»Ich war einige Zeit mit ihm unterwegs. Zwei Wochen, vielleicht. Er hat mir beigebracht, wie man sich im Gebirge bewegt.«
»Dann scheint es ein Glück, dass du ihn getroffen hast.«
»Ja. Ich habe viel gelernt mit ihm.«
»Warum hast du ihn nicht zum Fest eingeladen?«
»Ich weiß nicht viel von ihm. Nur seinen Namen.«
»Hätte der nicht gereicht, um ihn aufzuspüren?«
»Du hörst dich an wie mein Vater!«
»Verzeih mir. Ich bin nur verwundert. Ich denke mir, eine solche Tat, gemeinsam begangen, müsste zwei Menschen zusammenschmieden.«
»Wir haben uns nicht im Guten getrennt. Er war ... starrsinnig.«
Ein Lächeln zupfte an Ariks Mundwinkeln. »Das sind die Sesshaften manchmal.«
»Mag sein.«
Eine Weile schwiegen sie. Irgendwo wieherte eine Stute nach ihrem Fohlen.
Wie schön er doch war: makellose, glattrasierte Wangen, sanfte blaue Augen, die Bewegungen eines Tänzers. Sie erinnerte sich, wie sein Anblick ihr Herz in einen anderen Takt versetzt hatte. Vergangen.
»Bist du nicht eifersüchtig?«
Eine schmale Falte erschien auf Ariks Stirn.
»Sollte ich das denn sein?«
»Ich weiß nicht. Immerhin war ich mit einem fremden Mann alleine in der Wildnis unterwegs. Ist das kein Grund?«
»Für einen anderen Mann vielleicht, der mit einer anderen Frau zusammen ist. Aber ich vertraue dir. Du bist stark und treu. Du würdest keinen anderen berühren, und legte ein anderer seine Hände auf dich, würde dein Schwert ihn durchbohren.«
Sie nickte widerstrebend.
»Richtig.«
Er küsste ihre Hand und legte sie an seine Wange.
»Lass uns feiern gehen, Liebste. Sie warten sicher schon auf uns.«
Sie folgte ihm und wusste nicht, ob er die Probe nun bestanden hatte.
Es gab Wein und Musik und Tanz, und Lianna nahm von allem reichlich. Sie tanzte, bis ihre Füße schmerzten, und trank von dem dunklen Rotwein, bis sie nicht mehr wusste, ob der Platz sich um sie drehte oder sie sich um den Platz, aber solange die Musik spielte, war dieser Unterschied auch nicht von Bedeutung.
Der Mond ging auf und wieder unter, das Feuer brannte nieder und die Melodien wurden süß und traurig, bevor Lianna und Arik das Fest verließen. Er hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt, und wie selbstverständlich brachte er sie zu ihrem Wagen und kam mit ins Innere.
Sie sah ihn an, während er mit einem langen Holzspan die Lampen entzündete. Ein Echo von Musik und Gelächter hallte in ihr nach. Alles konnte gut sein. Dies war ihr perfektes Leben, sie musste nur danach greifen.
Arik kam zu ihr, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie tief und leidenschaftlich. Sie wusste, was sie zu tun hatte: Sie hatte sich früher nie sonderlich spröde ihm gegenüber gezeigt. Ihr Kopf wies ihre Hände an, durch sein Haar zu fahren, wie sie es immer getan hatte, sie war dankbar, dass ihr Kopf sich erinnerte. Er öffnete ihren Gürtel und warf ihn beiseite. Dann streifte er ihr das Kleid über den Kopf, gleich gefolgt vom Unterkleid. Gehorsam hob sie die Arme, und die kostbaren Stoffe fielen zu Boden. Ein Frösteln strich über ihre nackte Haut. Sein hungriger Blick war ihr unangenehm, und so presste sie sich gegen ihn und küsste ihn, damit er sie nicht länger ansah.
»Ich habe dich so vermisst«, flüsterte er dicht an ihren Lippen. »Meine Prinzessin ...«
»Nenn mich nicht so«, fauchte sie ihn an und stieß ihn, der zu Tode erschrocken war, von sich. »Ich habe einen Namen, falls du dich erinnerst. Den kannst du benutzen.«
»Aber«, sagte er völlig verwirrt. »Du mochtest es doch immer, wenn ich dich so nannte ...«
»Und jetzt mag ich es nicht mehr! Darf ich mich nicht verändern?«
»Doch«, sagte er, verletzt nun, aber nachgiebig. »Natürlich. Ich werde dich künftig nicht mehr so nennen, wenn du es nicht mehr willst.«
»Gut«, sagte sie und rang um ihre Beherrschung.
»Soll ich gehen?«, fragte er nach einer Weile, und sie hörte den flehenden Unterton, der ein »Nein« erbat. Sie fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht.
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