Ich schüttelte den Kopf. »Nein, wieso? Ich vertraue Dir, warum solltest Du es also nicht auch spüren können?«
Du hast gelacht. »Ich weiß nicht«, dann hast Du einen Moment gezögert, bevor Du weitersprachst. »Es war, als würde die Berührung der Lippen unsere Seelen miteinander verbinden. Dein Kuss versetzt mich in den Zustand eines Traumes, den man mit offenen Augen erlebt. Weißt Du, was ich meine? Deine Lippen sind weich und warm. Sie zu berühren, gibt mir das Gefühl, zu leben. Ich liebe Dich«, hast Du gemeint und mir einen Kuss auf die Wange gehaucht.
»Ich liebe Dich auch«, erwiderte ich und habe Dich umarmt.
Wusstest du in jenem Augenblick, wie sehr du sie liebst?, wollten die Schmetterlinge wissen und rissen mich aus meinen Erinnerungen.
»Ich … ich liebte sie in diesem Augenblick«, stammelte ich.
Aber wusstest du, wie innig diese Liebe war?
Ich überlegte und schüttelte dann träge den Kopf. »Es war ein Gefühl des Augenblicks, aber nicht …«
… für die Ewigkeit!
Ich nickte.
Sieh her!, verkündeten die Falter. Uns gehört die Ewigkeit!
Ich lachte und eine Gänsehaut kroch über meinen Körper, als ich plötzlich ein zweites Mal spürte, wie sehr ich dich damals liebte und dass diese Liebe noch immer in mir steckte, frisch wie am ersten Tag.
Würdest du sie jetzt küssen, wären deine Empfindungen anders.
»Küsse sind wertvoll wie Schätze. Man muss ihre Bedeutung erst finden und sie sich dann verdienen. Ein Kuss ist das Atmen zweier Seelen.«
Du begreifst.
»Ein Kuss ist nicht nur, wenn sich zwei Münder berühren. Es ist, als atme man das Leben eines anderen ein und gibt gleichzeitig etwas von seinem eigenen ab.«
So hast du verstanden, war die Antwort und die Tiere flatterten ans Fußende der Bettseite neben mir, wo sie sich zu einer neuen Figur formten. Als sie erstarrten, erkannte ich darin die Form eines Fußes und den oberen Teil eines Beines.
»Was ist das?«, wollte ich wissen.
Es sah aus, als versuchten die Schmetterlinge, ein menschliches, rechtes Bein nachzuahmen.
Ich wollte mich gerade von dem Kuriosum abwenden, als mein Blick auf meine eigenen Beine fiel. Mein Herz schlug schneller, als ich registrierte, dass genau dieser Teil meines Beines, der auf der anderen Seite des Bettes von den Schmetterlingen nachgebildet worden war, an meinem echten Körper fehlte!
Es sah aus, als hätte jemand ihn einfach wegradiert und es wäre dort nie etwas gewesen. Die Kanten wirkten leicht faserig und ich konnte die Bettwäsche des Hotels sehen, wo eigentlich mein Bein hätte sein sollen
Ich kniff irritiert die Augen zusammen, als ein Schmetterling aus der Körperöffnung kroch, in die Luft flatterte und sich wenig später auf meiner Brust niederließ.
Die Nachbildung meines Beines auf der anderen Bettseite lag einsam da, verursachte mir aber auf keinerlei Weise Angst oder gar Abscheu, sondern wirkte eher wie ein märchenhafter Traum. Einzig der gelbliche Schimmer der vielen Schmetterlingsflügel, die das Gliedmaß bildeten, deutete darauf hin, dass es sich nicht um meines, sondern um eine Nachbildung aus Insektenkörpern handelte.
»Was passiert hier?«, sagte ich leise.
Wir zeigen dir die Liebe, die in dir steckt, sagte der Schmetterling auf meiner Brust.
Hinter ihm erschienen weitere Insekten, wurden aus meinem Bein geboren und ließen es mit ihrem Erscheinen gleichzeitig auch verschwinden.
»Wie macht ihr das?«
Dir wird nichts geschehen, beruhigten mich die neuen Schmetterlinge. Lass dich fallen.
Obwohl ich wusste, dass das alles nicht real sein konnte, erfasste mich kurzzeitig ein panikartiges Gefühl. Ich bekam plötzlich Angst, meinen ganzen Körper zu verlieren.
Ich hasste derartige Träume und konzentrierte mich, daraus zu erwachen.
Du träumst nicht, riss mich die Stimme eines der Schmetterlinge aus meinen Bemühungen.
»Wenn ich weder träume noch wach bin, was geschieht dann mit mir?«
Wir sind in dir drin. Und jetzt kommen wir aus dir heraus. Es ist die Liebe, mit der du kommunizierst.
Ich ließ mich mit einem Seufzen in das Kissen zurückfallen und schloss die Augen.
»Okay, dann weiter. Zeigt mir die Liebe«, ergab ich mich.
Sieh her! Uns gehört die Ewigkeit!, sagten die Schmetterlinge im Chor und wirbelten näher ans Bett. Fast schien es, als wollten sie mir zu erkennen geben, wie wichtig diese Form der Liebe ihres Empfindens nach war. Wir sind der Geist der Erotik!
Mir wurde schwindlig, als ich die Worte der Schmetterlinge hörte.
Erotik.
Bilder von Dir und mir blitzten durch meine Gedanken, ohne dass ich Einfluss darauf hatte. Dein Lächeln, deine Berührungen.
Erotik.
Mein rechtes Bein begann zu kribbeln und ich widerstand der Versuchung, ins Nichts zu greifen, um mich zu kratzen. Ich konzentrierte mich wieder auf die Schmetterlinge vor meinem Bett.
»Erotik ist die Symbiose aus Sehen, Fühlen und Denken. Sie führt oft zur körperlichen Liebe, hat jedoch eine weitaus höhere Bedeutung als diese«, begann ich mit meinen Ausführungen. »Schon eine kleine Geste des Menschen, den man liebt, führt dazu, dass man zu denken beginnt. Und mit diesem Nachdenken über jene Geste beginnt die Erotik.«
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Eigenschaften der Erotik, die mir einfielen, während noch immer Bilder von Dir in meinen Gedanken umherwirbelten. »Erotik ist …«, erneut machte ich eine Pause, um eine möglichst genaue Beschreibung meiner Empfindungen zu geben. »Mimik, Gestik, Aussehen und bestimmte Charakterzüge und Eigenarten des Menschen. Selbst die Stimme ist von hoher Erotik, wie auch Handlungen, die mit der Liebe zu einem Menschen eigentlich gar nichts zu tun haben.« Ich verstummte und betrachtete die Schmetterlinge eine Weile, bevor ich fortfuhr. »Nacktheit hat wenig mit dieser Art von Liebe zu tun. Ich würde sagen, bei der Erotik gilt: weniger ist mehr.«
Meine Atmung war ruhig und gleichmäßig, als würde mich das Nachdenken über diese Form der Liebe beruhigen. Tatsächlich fühlte ich mich bei dem Gedanken an die Mannigfaltigkeit der Erotik geborgen.
»Die Signale des Senders müssen vom Empfänger verstanden werden, erst dadurch kann Erotik überhaupt entstehen. Was für den einen erotisch ist, kann für den anderen völlig bedeutungslos sein. Erotik ist das Zusammenspiel zweier Menschen, die sich lieben. Ihre gegenseitige Sinnlichkeit zieht sie an. In kleinen wie großen Dingen herrscht Übereinstimmung und Verstehen. Man muss lernen, die Erotik zu erkennen. Erst dann sieht man die wahre Anmut, die dahinter steckt …«
Sie ist zu erlernen wie die Liebe, bestätigten die Falter.
Ich nickte. »Sehen, Fühlen, Denken … Sehen mit den Augen und dem Herzen, Fühlen mit den Händen und dem Herzen, Denken mit dem Gehirn und dem Herzen. Erotik ist eine Sache, die im Herzen und der Seele stattfindet, ein wichtiger Teil der Liebe.«
So hast du erneut verstanden.
»Ich bin noch nicht fertig«, sagte ich leise. »Eine flüchtige Berührung ist für mich erotisch, wenn ich die Person liebe, die mich berührt. Ein nackter Körper erregt mich, ein mit seidenem Stoff bedeckter wirkt hingegen anmutig und erotisch. Erotik ist die zarte Seite der Liebe, voller Mysterien, die es zu entdecken gilt. Ohne Erotik würde der Liebe das Knistern fehlen, sie wäre eintönig und bedeutungslos.« Ich senkte die Stimme und richtete das Wort an Dich, als lägst du neben mir. »Wenn ich dich sehe, wie du die Augen schließt und dich fallen lässt, so ist das erotisch für mich. Du bist sympathisch und begehrenswert. Solche Dinge veranlassen mich jeden Tag aufs Neue, dich zu lieben.«
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