Lass dich fallen!
Ich lächelte bei den Worten, denn es handelte sich um dieselben, die ich zu Dir sagte, als wir das erste Mal alleine waren und uns kennen lernten.
Ein leises Geräuschließ mich aufhorchen. Neugierig öffnete ich die Augen und erblickte direkt vor meinem Gesicht einen zitronengelben Schmetterling.Ich hielt den Atem an, um das Tier nicht zu erschrecken, das dicht vor mir in der Luft schwebte, als wäre es ein Kolibri. Nach einer Weile setzte sich das Tier auf Augenhöhe an den Rand des Bettes und verhielt sich still.
Wir alle brauchen Licht, ertönte eine Stimme, die anders klang als der Ruf.
Er war anscheinend zum Geist der Liebe geworden. Ich zuckte unwillkürlich zusammen.
»Was meinst du?«, war alles, was ich als Antwort zustande brachte. Wer bist du?, dachte ich, sprach es aber nicht laut aus. Ich schüttelte den Kopf. »Ich träume«, murmelte ich und starrte auf den Schmetterling. Ich war überzeugt, in der Realität neben Dir zu liegen und mir all dies nur einzubilden.
Warum lässt du dich nicht fallen und denkst über die Liebe nach?
Ich beugte mich näher an den Schmetterling heran, um die Zeichnung auf seinen Flügeln besser sehen zu können. »Warum nicht?«, antwortete ich laut. Ich legte mich auf die Seite, betrachtete eine Weile den bewegungslosen Falter. »Ich bin bereit.«
Dann sag mir, was Liebe für dich bedeutet, verlangte der Schmetterling mit der gleichen Stimme, die ich die ganze Zeit in meinem Kopf vernommen hatte.
Ich überlegte. »Geborgenheit, Wärme, Sicherheit und …«, begann ich aufzuzählen und kam ins Stocken.
Und?
Unbewusst zuckte ich mit den Schultern. »Ich weiß nicht«, gab ich zu. »Es ist nicht leicht, die Liebe zu erklären.«
Deswegen bist du hier. Konzentrier dich und versuche, alle Arten der Liebe zu nennen, die dir einfallen.
»Arten der Liebe?«, wiederholte ich. »Gibt es nicht nur eine einzige Form der Liebe?«
Liebe ist vielfältig und setzt sich aus vielen unterschiedlichen Elementen zusammen, versuchte mir das Insekt zu erklären. Sie ist nicht nur ein einzelnes Gefühl.
Ich betrachtete den Schmetterling nachdenklich. »Liebe ...«, begann ich dann bereitwillig zu erzählen, um seinem Ansinnen Folge zu leisten, »Liebe ist wie ein Licht in unserem Leben.«
Das ist gut, lobte mich das Tier.
Eine Weile herrschte Stille, bis am Fußende des Bettes ein weiterer Schmetterling erschien und über meinen Körper zu seinem Artgenossen flatterte, um sich neben ihm nieder zu lassen.
»Was?«
Lass dich fallen, wiederholte der Schmetterling. Du wirst verstehen, wenn es so weit ist.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Aufgabe.
Liebe ist Licht, wiederholte der erste Schmetterling meine Überlegungen. Wie hell oder dunkel ist dein Leben?
»Es ist hell«, antwortete ich ohne Zögern.
Wer liebt, lebt hell, fasste der erste Schmetterling zusammen. Das Leben ist wie ein Zimmer, in das wir hineingeboren werden. Am Anfang wird es von der Liebe unserer Eltern erhellt, bis es dann mit dem Alter wieder dunkler wird.
»Was meinst du?«
Wenn wir die unmittelbare Liebe unserer Eltern mit dem Erwachsenwerden verlieren, beginnt es in unseren Zimmern zu dämmern.
»Ist die Liebe von Eltern nicht ein ganzes Leben lang präsent?«, widersprach ich.
Du hast recht. Elternliebe dauert meist ein ganzes Leben. Aber erfährst du diese auch noch, wenn du auf eigenen Beinen stehst? Spürst du dann noch die Berührungen von Mutter und Vater auf deiner Haut, um dich zu liebkosen und trösten?
Ich schüttelte den Kopf. »Selten«, gab ich zu.
Unser Zimmer wird also wieder dunkler, bis etwas kommt, das es erneut erhellt. Die Liebe eines anderen, fremden Menschen …
Ein kurzes Flackern neben meinem Kopf ließ mich irritiert zur Seite sehen.
Ein weiterer Schmetterling - nein, es waren zwei, die sich auf der Bettkante niederließen und zur Bewegungslosigkeit erstarrten.
»Woher kommen diese Schmetterlinge?«, erkundigte ich mich.
Aus deinem Herzen, war die Antwort aller Schmetterlinge.
Ein Gefühl der Liebe erfasste mich von einer Sekunde auf die andere. Ich verspürte den Drang, zu weinen, als könnte ich mich dadurch von einer unendlichen Seelenlast befreien.
Was ist?, erklang die Stimme eines Schmetterlings.
»Ich … eine Traurigkeit hat mich plötzlich befallen«, antwortete ich schluchzend.
Nur zu, ermunterte mich eines der Tiere. Es ist keine Schande, zu weinen.
»Es ist … ich werde melancholisch, wenn ich an die Liebe denke. Könnte ich öfter weinen, wäre diese gelegentliche Melancholie vermutlich erträglicher.« Ich neigte den Kopf zur Seite und schloss die Augen.
Ich dachte an Dich und eine Welle aus Emotionen erfasste mich.
Als ich die Lider wieder öffnete, saß mehr als ein Dutzend Schmetterlinge auf der rechten Bettkante. Sie betrachteten mich durch ihre Facettenaugen, als wüssten sie von meinen Gefühlen.
Schmerzt die Liebe?, fragte mich einer der Schmetterlinge.
»Manchmal«, bestätigte ich. »Doch sind wir nicht hier, um diesen ›Schmerz‹ zu ertragen, bis er sich in Glück verwandelt?«
Ja, das ist das Geheimnis. Wer die Liebe versteht, erträgt die Qualen, die in Wahrheit gar nicht existieren. Es ist die Erfüllung einer Liebe, in der die Menschen seelischen Schmerz zu erkennen vermeinen, antwortete das Tier.
»Erfüllung?«
Wir alle brauchen Licht. Wenn ich dir die Formen der Liebe zeige, wirst du es verstehen. Dein Zimmer wird heller sein als je zuvor, wenn du die wahre Liebe kennst.
Ich beobachtete, wie weitere Schmetterlinge auf der Bettkante landeten und sich zu den anderen gesellten.
»Das kann nur ein Traum sein«, murmelte ich. »Oder werde ich etwa verrückt?«
Nein!, widersprach die Stimme. Diejenigen, die ihr ganzes Leben lang nach der Liebe suchen und sie nicht finden, werden verrückt. Ich werde dir helfen, sie zu verstehen.
»Warum?«
Es ist ein Geschenk.
»Wo bin ich?«, erkundigte ich mich, weil ich plötzlich doch nicht mehr sicher war, mich in einem Traum zu befinden.
Wo immer du wünschst zu sein. Traum oder Leben … für die Liebe ist es nicht relevant. Im Grunde genommen ist es ein und dasselbe.
Ich betrachtete die zierlichen Körper der Schmetterlinge und überlegte, ob sie etwas mit Dir zu tun hatten, vielleicht in diesem Traum das Abbild meiner Liebe zu Dir darstellten.
Lass dich fallen und höre zu. Höre UNS zu, denn WIR SIND DIE LIEBE …
Sieh her! Uns gehört die Ewigkeit!
Die Schmetterlinge klangen erregt, als würden sie sich auf die erste Lektion freuen. Wir sind der Geist des Kusses.
Ich horchte auf. Ein Kuss war etwas Greifbares für mich, deshalb war ich an dieser Art der Liebe interessiert.
Der Kuss ist Bestandteil der körperlichen Liebe. Dennoch ist er etwas Eigenes und Besonderes.
Ich drehte mich den Tieren zu. Wie auf ein unhörbares Kommando erhoben sie sich in die Luft und formten neben dem Bett einen wirbelnden Körper, der mich an ein kleines Kind erinnerte.
Eine Erinnerung an eine der ersten Nächte, die ich mit Dir verbrachte, erblühte vor meinem inneren Auge. Wir lagen Arm in Arm im Bett und betrachteten den Mond, dessen Schein ins Zimmer floss, als wäre das Licht eine verzauberte Flüssigkeit. Die Szenerie hatte große Ähnlichkeit mit meinem Erwachen vor ein paar Stunden, als der Ruf mich geweckt hatte.
»Was denkst Du?«, hattest Du mich gefragt.
Ich sah Dich an und lächelte. »Nichts«, habe ich erwidert. »Und doch so viel«, setzte ich hinzu.
»Als du mich gerade geküsst hast …«. Du hattest deinen linken Arm über meine Brust gelegt und verträumt meine Haut gestreichel., »In dem Moment, in dem Deine Lippen die meinen berührten, fühle ich Vertrauen. Klingt verrückt, oder?«
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