Wolfgang Brylla
Der späte Besucher
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Inhaltsverzeichnis
Titel Wolfgang Brylla Der späte Besucher Dieses ebook wurde erstellt bei
Prolog
Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Epilog
Impressum neobooks
An einem nebelverhangenen Novemberabend stand er an der Eingangstüre des Hauses, in dessen Erdgeschoss meine Praxis liegt. Die Türglocke hatte mich aus meinen Gedanken aufschrecken lassen, in denen ich den Tag ausklingen ließ, denn ich erwartete niemanden mehr. Im gelblichen Licht der Außenbeleuchtung sah ich ihn vor der Türe stehen. Seinen Mantelkragen hatte er hochgeschlagen, so dass ich nur den oberen Teil des Gesichtes wahrnehmen konnte. Ohne zu überlegen, ob ich drücken sollte, betätigte ich den Türöffner. Warum, das kann ich bis heute nicht sagen. Ich weiß nur, dass es richtig war.
Als er den Flur zu meiner Praxis betreten hatte, meinte ich, den Mann wiederzuerkennen, ohne sein Gesicht zuordnen zu können. Aus strahlenden blauen Augen sah er mir offen ins Gesicht und sagte: „Danke, dass Sie mich hereinlassen. Draußen ist wirklich ein Sauwetter.“ Er machte eine Pause, als ich ihn mit einer Handbewegung einlud, einzutreten. Im Wartezimmer bot ich ihm an, seinen Mantel aufzuhängen und mir in meinen Coachingraum zu folgen. Auf dem Schreibtisch stand ein Glas Rotwein, welches ich mir zum Feierabend eingeschenkt hatte. Mit einem Lächeln nahm er es zur Kenntnis. Ich fragte ihn, ob er auch ein Glas trinken wolle, was er dankbar annahm. Ich kannte den Fremden nicht und lud ihn zu einem Glas meines besten Weines ein. Mir wurde vor mir selbst unheimlich. Wo sollte der Abend noch enden.
So hoben wir unsere Gläser, tranken einen Schluck und er begann mit einer ruhigen, tiefen Stimme zu mir zu sprechen: „Sie werden mich nicht mehr kennen und doch haben Sie etwas Großes für mich getan.“ Er machte eine Pause, als er meinen fragenden Blick bemerkte, und fuhr fort. „Sie haben mich vor langer Zeit einmal, als ich Sie hilfesuchend um ein Coaching gebeten hatte, zurückgewiesen. Nein, nicht zurückgewiesen in dem Sinne, dass Sie mir nicht helfen wollten,“ berichtigte er sich schnell, als er mein Unverständnis bemerkte. „Sie hatten mein Anliegen, mir zu sagen, was ich tun sollte, zurückgewiesen und mir klargemacht, dass ich das nur selber herausfinden könne. Sie würden mir nur helfen, meine eigenen Möglichkeiten zu finden. Damals war mir das Zuwenig. Ich verließ wütend Ihre Praxis, aber Ihre Worte hingen mir noch lange nach. Und dann habe ich getan, was Sie mir damals geraten hatten. Ich habe selbst herausgefunden, was mir hilft. Es war nicht leicht, doch jetzt bin ich so weit, dass ich weiß, wohin ich gehöre und wohin ich gehen werde. Ich war auf dem Weg, noch einmal alles Alte aufzusuchen und mich von dem Vergangenen zu verabschieden. So kam ich an Ihrem Hause vorbei. Als ich sah, dass noch Licht brannte, habe ich geschellt, ohne nachzudenken. Und jetzt sitze ich hier und verspüre das Verlangen, Ihnen zu berichten, was seitdem geschehen ist. Ist das nicht seltsam?“ Da konnte ich ihm nur zustimmen. Ich fand die ganze Situation äußerst seltsam aber auch irgendwie stimmig.
Vielleicht aus Verlegenheit hatte jeder von uns sein Glas viel zu schnell geleert. Ich war neugierig geworden und sagte es ihm. Nachdem ich unsere Gläser wieder gefüllt hatte, begann er zu erzählen. So saßen wir den ganzen Abend in den bequemen Sesseln, in denen ich sonst mit meinen Klienten an den Lösungen ihrer Probleme arbeitete, beisammen. Diesmal war ich nicht der Coach, sondern wurde immer mehr zum Schüler, der fasziniert den Lehren des Meisters lauscht. Dabei tranken wir Rotwein, bis die Flasche leer war und ich eine neue aus dem Keller holte.
Zu Beginn vertraute er mir an, dass er sicher sei, ohne seinen Besuch bei mir vor langer Zeit nicht zu dem geworden zu sein, der er nun war. Dann begann er, die ersten Schritte zu beschreiben, die ihn immer weiter ins Nichts zu führen schienen, ohne dass er zu diesem Zeitpunkt ahnte, dass sie ihn in eine neue Welt leiten würden und in ein Land, in das er nun für immer reisen würde.
Seit dieser Begegnung sind viele Tage ins Land gegangen und das neue Jahr hat begonnen. Endlich habe ich meinen Mut zusammengenommenen, um das aufzuschreiben, was ich in Erinnerung behalten habe. Mut deshalb, weil ich, schon während er bei mir saß, spürte, dass diese Geschichte allzu leicht meine eigene werden könnte.
So sitze ich hier, versuche, mich zu erinnern und schreibe, was mir mein Inneres preisgibt. Es ist die Geschichte von Albert, und es ist auch meine, denn zwischen dem, was er berichtete und dem, was jetzt zu Papier kommt, liegt die Erinnerung und die Fantasie meiner Gedanken.
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise Jahrtausende lang;
und ich weiß noch nicht:
bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
Rainer Maria Rilke
"Auch die beunruhigendste Gegenwart
wird bald Vergangenheit sein.
Das ist immerhin tröstlich."
Thornton Wilder
Es war kalt geworden in der Stadt. Ein Tiefdruckgebiet verteilte dunkelgraue Wolken über den aschfarbenen Himmel. Schwarze Krähen saßen und spähten von blattlosen Ästen, ob irgendwo eine Beute zu ergattern sei. Ein Mann ging mit schleppenden Schritten, sich im hochgeschlagenen Mantelkragen verkriechend, durch den Volksgarten, der bei diesem Wetter wie ausgestorben war. Die Wiesen, auf denen im Sommer leicht bekleidete Menschen die Sonnenstrahlen genossen, waren bedeckt von einer gräulichen Patina aus Nebel und Sprühregen.
„Das ist genau die richtige Umgebung für mich", dachte der Mann. Mühsam und mit außergewöhnlicher Langsamkeit setzte er Fuß vor Fuß, so als würde kein kalter Wind in sein Gesicht fegen. Er schien die Kälte nicht einmal zu bemerken, so sehr war er in seine Gedanken vertieft. Der Mann hieß Albert Lang und wusste in diesem Moment nicht, was er hier tat. Wie ein schwebender Roboter lief er über die matschigen Wege. Erst die helle Leuchtreklame eines Kiosks am Ende des Parks riss ihn aus seinen Gedanken. Langsam näherte er sich der Bude, die einsam in dieser verlassenen Gegend ihre Existenzberechtigung durch ein "Geöffnet-Schild" verteidigte. Der Verkäufer, ein kleiner Mann mit dunklen Haaren, lächelte mit anerzogener Unpersönlichkeit, als Albert eine Flasche Altbier bestellte. Wieselflink glitt er zum Bierkasten, holte eine Flasche Gatz heraus und stellte diese auf die schmale Theke. Albert nickte dankend, zahlte und wandte sich wieder dem immer dunkler werdenden Park zu. Im Gehen öffnete er mit seinem Feuerzeug die Flasche und trank. Er brauchte nur wenige Schlucke, um sie zu leeren. Sein Blick war dumpf auf den dunklen Weg gerichtet. Die entspannende Wirkung des Bieres tat ihm gut. Jetzt nahm er sich wieder wahr. Was war los mit ihm? Am Vormittag hatte er eine Auszeichnung für einen außergewöhnlichen Entwurf erhalten. Die Kollegen hatten ihm gratuliert. Einen Moment lang war er sogar stolz gewesen. Doch dann war sie wieder da gewesen, die Gleichgültigkeit, die ihn seit Tagen und Wochen beherrschte. Wenn er genau überlegte, kannte er dieses Gefühl, seit er auf dieser Welt war. Manchmal erschien es ihm als Angst, dann als Wut oder wie heute als Gleichgültigkeit. Immer hatte es seinen Ausgangspunkt im Magen, als Kloß, als Faust oder als Feuer. Im Beruf hatte er mehr oder weniger großen Erfolg. Auch bei den Frauen kam er gut an, wenn seine Beziehungen auch selten länger als ein paar Monate anhielten. Sogar die eine oder andere große Liebe war dabei gewesen, aber auch die waren schnell vorübergegangen, wie alles, was er erlebte.
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