Müdigkeit kehrte zurück und ließ ihn erneut in einen kurzen Schlaf fallen. Als er wieder erwachte, erinnerte er sich nicht mehr an den Dialog mit sich selbst. Aber er fühlte sich besser. Er duschte und frühstückte, indem er eine Tasse Kaffee trank, denn nach etwas Essbarem war ihm noch nicht zumute, und setzte sich an den Computer, um seine Mails abzurufen.
Neben dem üblichen Müll fand er einige geschäftliche Mitteilungen und die Einladung zu einem Seminar, welches im Titel die Aussicht auf ein erfülltes Leben ankündigte. Zwar war auch das Werbung, aber aus Gründen, die er nicht verstand, öffnete er die Mail. Die Einladung sprach ihn an, und ehe er lange über Vor- und Nachteile nachgedacht hatte, so wie es seine Art war, und ohne eine oder mehrere Nächte darüber geschlafen zu haben, wie er es sonst getan hätte und was ihn schon oft vor falschen Entscheidungen bewahrt hatte, noch öfter aber seine Chancen verpassen ließ, hatte er sich online zu diesem Seminar angemeldet. Es sollte in der Woche Ende des Jahres in Bayern stattfinden.
Völlig verwundert betrachtete er wenige Minuten später die Onlinebestätigung in seiner Mailbox. Jetzt weiß ich, was ich zwischen Weihnachten und Neujahr tun werde, dachte er belustigt. Was ihn jedoch irritierte, war, dass er sich zu einem Seminar angemeldet hatte, welches in mehr als einem Punkt nicht in seine vom Bewusstsein dominierte Welt zu passen schien. In der Beschreibung war die Rede von persönlicher Entwicklung und Wachstum, von Meditation und spirituellen Erkenntnissen sowie gemeinsamen Gesängen. Es rief ein Gefühl von Verunsicherung in ihm hervor, aber gleichzeitig auch die Erinnerung daran, wie er sich gefühlt hatte, als er in jungen Jahren fremde Länder bereist hatte, ohne Planung aufs Geratewohl, und ohne vorher zu wissen, was ihn dort erwarten würde. Wenn er damals Lust verspürte, zu reisen, hatte er ein Flugticket gekauft, war in den Flieger gestiegen, ohne Plan, aber voll neugieriger Erwartung auf das, was er erleben würde. So ähnlich fühlte er sich nun, als er auf das wartete, was bei diesem Seminar auf ihn zukommen würde. Es waren noch sechs Wochen bis dahin. Im Architekturbüro würde sich die Arbeit anhäufen, die Vorbereitungen zu Ideenwettbewerben standen an, Ausschreibungen waren fertigzustellen und Abrechnungen zu prüfen. So würde er schon bald nicht mehr an das Seminar und die Buchung denken.
Heute jedoch saß er in der stilgerecht eingerichteten Wohnung im Dachgeschoss eines renovierten Altbaus mit dem Blick über die Dachlandschaft seines Viertels bis hin zum Fernsehturm am Rhein. Endlich verspürte er wieder einmal so etwas wie Zufriedenheit und Tatendrang. Doch die Freude währte nicht lange, denn schon bald überfielen ihn Gedanken, die ihn zwangen, an all das zu denken, was noch zu erledigen sei. Sie drängten sich ihm auf, ohne dass er sie gerufen hätte oder er sich gegen sie wehren konnte. Die einzige Möglichkeit, dem Druck zu entkommen, war, eine Flasche Bier zu öffnen und zu trinken. Eigentlich war es noch zu früh dafür, aber für diesen Zweck hatten die Deutschen ja das Wörtchen „eigentlich" erfunden. Damit zeigte man, dass man zwar wusste, was besser wäre, um dann mit gutem Gewissen das Schlechtere tun zu können.
Nach zwei Flaschen Gatz war er ruhig und leicht benommen. So stieg er die Treppen hinab und ging auf die Straße hinaus. Er fühlte den Drang, sich zu bewegen. Draußen begann es bereits zu dämmern. Seine Füße trugen ihn wie immer in die Innenstadt.
Er ging durch die Wohnstraßen des Viertels, an alten Häuserfronten vorbei, bis er auf die Friedrichstraße kam. Hier war ihm entschieden zu viel Volk unterwegs. Autos hupten im Stau, der schon jetzt den Verkehr nahezu lahmlegte. Bald würde die Rushhour einsetzen. Eine Straßenbahn klingelte unaufhörlich, als würde ihr das helfen, voranzukommen. Zum Glück war auch für diese Strecke eine U-Bahn geplant, dessen Bau im nächsten Jahr beginnen sollte. Das wusste er aus gut unterrichteten Kreisen. Schließlich war er ja vom Fach.
Schnell überquerte er die verstopfte Straße und schon nach wenigen Metern befand er sich am Eingang eines kleinen Parks, in dessen Mitte ein Weiher, der Schwanenspiegel, im Dämmerlicht glänzte. Die biegsamen Äste der Trauerweiden schwangen über dem Wasser, auf dem sich Enten quakend treiben ließen und Möwen hoch über ihnen schreiend ihre Runden drehten. Von den um den Park führenden Straßen drangen die roten Rücklichter langsam rollender Autos durch die kahlen Zweige der Büsche. Bald würde die Beleuchtung des alten Ständehauses eingeschaltet, welches bis 1988 Sitz des Landtages war. Imposant thronte das wilhelminische Bauwerk am Rande des Teichs. Heute befand sich dort das „K21", die Dependance der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen mit Ausstellungen zur zeitgenössischen Kunst. Nicht weit von hier lag seine alte Schule. Oft hatten sie in den freien Stunden auf den Bänken am Rande des Weihers gesessen. Später dann, während des Studiums, hatte er hier so manche Flasche Altbier geleert und den Möwen bei ihren tollkühnen Flugeskapaden zugeschaut. Da hatte er sich dann nicht selten gewünscht, eine von ihnen zu sein und frei schwebend in der Luft die Welt zu erforschen.
Schließlich gelangte er zum Schwanenmarkt. Am Heinrich-Heine-Monument blieb er stehen und betrachtete das 1981 zum 125. Todestag des Dichters errichtete sogenannte „Fragemal" von Bert Gerresheim. Dieser Heinrich Heine wurde als der letzte große Dichter der Romantik und zugleich deren Überwinder bezeichnet. Als Sohn dieser Stadt bekam man schon in der Schule als Kind so manches über ihn beigebracht. Zum Beispiel, dass er kritisch gewesen war, politisch und engagiert. Er passte nicht in das Deutschland seiner Zeit und musste gehen.
„Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön, und wenn man in der Ferne an sie denkt, und zufällig dort geboren ist, wird einem wunderlich zu Muthe. Ich bin dort geboren und es ist mir, als müsste ich gleich nach Hause gehn. Und wenn ich sage nach Hause gehn, dann meine ich die Bolkerstraße und das Haus, worin ich geboren bin." Das hatte Heine 1827 in seinem Werk "Le Grand" geschrieben.
Irgendwie fühlte Albert wie er. „Vielleicht sollte ich auch gehen. Dann würde ich auch solche Worte finden für meine Heimatstadt," dachte er.
Er erinnerte sich an eine Diskussion mit seinem Jugendfreund über die Sinnlosigkeit des Lebens. Er war damals Anfang zwanzig gewesen und spürte einen unglaublichen Hass auf alles, was ihm spießig vorkam und ihn einzuengen drohte. Und das war eine ganze Menge. Albert lächelte, als er an diese Zeit dachte und ihm wurde bewusst, wie viel er noch davon in sich trug. Zwar hatten sein Erfolg und die damit verbundene Arbeit die Radikalität seiner Jugend vertrieben, vielleicht auch nur mit Alltäglichkeit zugedeckt, doch tief in sich spürte er diese Wut, die er mit Drinks und Altbier zu bändigen versuchte.
Im Verlauf des Gesprächs, so erinnerte sich Albert, hatte er Heine als Leidensgenossen angeführt. Auch er war in dieser Stadt geboren, hatte seine Kindheit hier verbracht und war als Mann von hier fortgegangen, angefeindet und bekämpft. Er hatte in Frankreich den größten Teil seines Lebens zugebracht und war dort elendiglich gestorben.
Albert hatte den Dichter zitiert:
„Denk' ich an Deutschland in der Nacht,
dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen.
Und meine heißen Tränen fließen."
Du machst dir die Dinge, wie du sie brauchst. Das Gedicht hat auch ein Ende und da heißt es:
„Gottlob! Durch meine Fenster bricht
Französisch heitres Tageslicht;
Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,
Und lächelt fort die deutschen Sorgen."
Der Freund hatte nur gemeint: „Es gibt für alles eine Lösung." Damals hatte er darauf verbittert reagiert und noch lange mit dem Freund gestritten über Sinn und Wahrheit und Manipulation. Sie hatten dabei ein Bierglas nach dem anderen geleert, und als der Morgen anbrach, gingen sie versöhnt und betrunken auseinander. Zum Abschluss und zur Bestätigung seiner Gedanken hatte er aus „Der Scheidende" einige Verse des Dichters herausgesucht und vorgelesen.
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