Sie hielten die Totenwache, sie bestatteten Airo und sie trauerten. Später mussten Entscheidungen getroffen werden. Dorna wollte sich nach Lorga durchschlagen, um Mornan zu suchen. Nerada wollte Airos Tante in Bayola die traurige Nachricht von seinem Tod überbringen, sie und ihre Familie waren die einzigen Verwandten, die er noch gehabt hatte. Doch Ayuma widersprach ihr. Wenn sie diese Aufgabe übernahm, konnte sie sich ein gutes Stück des Weges mit Dorna zusammentun. Es machte es leichter, der Gefahr ins Auge zu sehen, Kriegern von Darilon zu begegnen.
Als die Schlacht losgebrochen war, war Nerada unruhig geworden und hatte den Weg zum Waldrand eingeschlagen, wo sie ein grausiges Schlachtfeld vorgefunden hatte: Tote und Sterbende, denen niemand mehr helfen konnte, und Pferde, die sie eingefangen und fortgebracht hatte. Sie waren versorgt worden und standen nun hinten im Stall.
Jetzt kamen sie den Mädchen zugute. Sie suchten sich zwei der Pferde aus. Nerada reichte Ayuma einen Beutel mit Proviant, den diese sich an den Gürtel band, als sie und Dorna in die Sättel stiegen.
„Ihr müsst immer nach Norden reiten, bis ihr auf einen Fluss trefft. Folgt ihm. Ihr gelangt dann bald an euer Ziel“, erklärte Nerada den Weg. Dann hielt sie Ayuma noch einmal auf. „Wenn du die Nachricht überbracht hast, komm zu uns zurück!“
...
Nurayama hatte mit ihrer Mutter, der Königin, lange diskutiert. All die Arbeit und Mühe, die sie in die Ausbildung ihrer Schwester gesteckt hatten, musste anerkannt werden. Auch konnte Nurena ihre Talente nicht ewig in der Schattenburg verstecken, sie musste den nächsten Schritt gehen. So ließ Nurayama nach Nurena schicken und saß ungeduldig auf dem Fenstersims, als diese endlich eintrat.
„Mutter hat beschlossen, dass nun die Zeit gekommen ist. Heute ist ein besonderer Tag, heute sollst du Bekanntschaft schließen mit deinem eigenen ... Drachen!“
Nurena starrte sie an. Hatte sie Drachen gehört? Als besondere Auszeichnung bekamen die besten Krieger des Königreiches einen Drachen. Sie hatte nie gedacht, dass auch sie, genauso wie ihre Schwester, einmal ein solches Geschöpf zur Seite gestellt bekäme, doch sie wollte schon als kleines Mädchen einen Drachen besitzen.
„Wir treffen ihn auf dem Übungsplatz.“ Als Nurayama aufstand, wurde sie von der aufgeregten Nurena am Arm aus dem Zimmer herausgezogen.
Zusammen gelangten sie auf die große Wiese. Es herrschte reges Treiben, ein Kommen und Gehen, Waffenklirren und Schreien.
„Wie kommt Mutter auf einmal zu der Entscheidung, mir einen Drachen zu überlassen?“, fragte Nurena nun, als die erste Freude gewichen war und nicht mehr ihre Gedanken blockierte.
„Ich denke, dass du dafür bereit bist. Du kannst besser kämpfen als jeder andere, sogar besser als ich, und du hast Magie erlernt. Es ist die Belohnung für viele Jahre harter Arbeit.“
Während des Gesprächs legte sich ein Schatten über Nurayama. Nurena überkam ein eigenartiges Gefühl in Kopf und Bauch. Als ein Luftwirbel sie erfasste und ein riesiger Flügel über ihr aufwärtsschlug, schloss sich eine Verbindung zu dem schwarzen Drachen, der vor ihr zur Landung ansetzte. Sie blickten sich in die Augen und erstarrten. Dann gluckste der Drache.
„Ist etwas lustig?“, fragte Nurena.
„Du stehst ehrfürchtig einem riesigen Drachen gegenüber und das Erste, was du sagst, ist: hallo?“
„Ich habe nichts gesagt!“
„Du hast es gedacht!“ Dann neigte sich der Kopf des Drachen. „Man nennt mich Sura.“
„Nurena, nimmst du Sura als deine Drachengefährtin an?“, fragte Nurayama. Nurena musterte das stolze Tier und die Freude stellte sich wieder ein. Sie stimmte zu. „Sura, nimmst du Nurena als deine Reiterin an?“
„Sie ist ein bisschen schmal, aber ja!“, neckte Sura zustimmend.
Nurayama lächelte. „Gut! So haben wir der Tradition Genüge getan. Nurena, du musst jetzt zu deinem ersten Drachenflug aufbrechen.“
„WAS?“
„Du hast mich schon verstanden. Los, mach schon!“, wies Nurayama an. Sie schob ihre Schwester in Richtung Drachen. Wo war ihr sonst immer vorhandener Übermut hin? Wollte sie jetzt kneifen? Auch musste sie Nurena eher auf den Rücken des Tieres hieven, als dass diese freiwillig geklettert wäre. „Übertreib es nicht“, flüsterte sie noch in Suras Ohr.
„Natürlich nicht“, gab Sura zurück und schoss belustigt und pfeilschnell in die Lüfte.
Zuerst überkam Nurena die Angst. Dies war eine unbekannte Erfahrung für sie, sie musste es sich selbst eingestehen. Doch als sie den Boden unter den Füßen verlor und begann, die gewaltige Kraft unter sich zu spüren, die sie trug, da erkannte sie, dass das Fliegen für sie erfunden worden sein musste. Selbst das Reiten war nichts gegen dieses Erlebnis. Fliegen war grandios.
„Das finde ich auch!“
„Wer ist da“, rief Nurena und drehte sich in alle Richtungen.
„Brauchst ja nicht gleich so rumzuschreien“, lachte die Stimme wieder, die Nurena jetzt als Suras erkannte. Aber wieso war sie in ihrem Kopf?
„Wir können uns in unseren Gedanken unterhalten. Denke deine Antwort einfach“, erklärte Sura.
„Du meinst so? Das ist echt toll.“
„Ich weiß. Da ich dein Dämon bin, können wir auch auf diese Weise miteinander sprechen. Mach dich jetzt für die Landung bereit.“
Sura drehte ein paar Kreise, die sie immer tiefer sinken ließen, bis sie wieder auf dem Übungsplatz landeten. Nurena sprang von Suras Rücken. Ihr Gesicht glühte vor Aufregung.
„Fliegen ist vielleicht doch deine Sache!“ Die ebenfalls begeisterte Nurayama lief auf Nurena zu. Die Schwestern fielen sich lachend in die Arme.
Sura stieß sich vom Boden ab, um zum Stall zu fliegen und sich dort zu stärken. Nurena bedauerte, dass ihr Drache sich entfernte. Sie wandte sich wieder Nurayama zu. „Wieso hast du mich nicht früher schon einmal fliegen lassen?“
„Fliegen ist eben nicht einfach fliegen. Du musst lernen, richtig zu sitzen, deinen Drachen zu steuern, auf Suras Rücken zu kämpfen und noch anderes. Ich werde dir gerne alles beibringen.“
„Du?“
„Ja, ich. Wir beginnen morgen um dieselbe Zeit hier auf dem Übungsplatz.“
Nurena konnte es kaum glauben. Der Tag hatte eine unerwartete Wendung genommen. Ihr Dämon war ein Drache! Sie würde eine Drachenreiterin werden und sie würde härter trainieren als je irgendjemand anderes.
*
Sie kniete verborgen hinter dem hohen Schilfgras, das am Ufer des Flusses wuchs. Leise zog Dorna einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn vorsichtig auf ihren Bogen, zielte kurz und schoss. Eine Ente fiel getroffen zu Boden. Sie stand auf und fand die Beute am Ufer liegend, zog den Pfeil heraus, säuberte ihn und steckte ihn zurück in den Köcher.
Als der Tag zu Ende ging, hatten die Mädchen ihren Pferden eine Ruhepause gegönnt, denn die Tiere mussten grasen und trinken.
Als sie abgestiegen waren, war ein Reh wie aus dem Nichts vor ihnen davongesprungen. Das Nichts war eine Höhle gewesen. Nun hatte Ayuma in der Zwischenzeit ein Feuer entfacht und ihnen ein Lager aus Laub und Decken hergerichtet.
„Was hast du geschossen?“, fragte Ayuma, als Dorna im Lager eintraf.
Diese hob den Vogel stolz in die Höhe. „Na, unser Abendessen!“
Ein paar Minuten später steckte die Ente an einem Spieß und das Fleisch briet über dem Feuer. Sie lehnten sich zurück und berieten sich.
„Wie weit ist es noch nach Bayola?“, fragte Ayuma.
„Ich weiß es nicht. Wir sind den ganzen Tag gereist und hier am Fluss angekommen. Ich würde sagen, morgen am frühen Abend müssten wir das Dorf erreichen“, überlegte Dorna laut.
„Begleitest du mich zu Airos Tante?“
„In Ordnung. Ich verstehe, dass es keine einfache Aufgabe ist, eine solch traurige Nachricht zu überbringen. Doch danach muss ich nach Lorga reisen. Ich gehe nicht mit dir zurück zu Nerada“, fügte sie hinzu.
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