Die Drachendame breitete die Flügel aus und das Mädchen schloss die Augen. Finea schoss in die Lüfte. Schon nach ein paar Sekunden, als ihre Bewegungen sich denen des Drachen anpassten, wusste Ayuma, dass das Fliegen in ihrer Natur lag. Es war nichts, wovor man Angst haben musste. Leider war der Flug viel zu kurz, denn schon landete Finea vor der Höhle.
Ayuma sprang ab.
„Fliege ich so schlecht?“ Offenbar dachte Finea, Ayuma wäre gesprungen, um so schnell wie möglich wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren.
Ayuma lachte und drehte sich zu Finea um. „Nein, du fliegst wunderbar, etwas Vergleichbares habe ich noch nie erlebt! Ich muss Korsion wecken.“
„Ich bin wach.“ Korsion stand bereits hinter ihr. Sein Blick hing an Finea. Er nahm es wirklich gut auf, dass nun ein ausgewachsener Drache vor ihm stand. „Ich will nicht wissen, wo du ihn herhast, oder?“
„Nein, das glaube ich nicht. Lass uns einfach aufbrechen. Ich muss zu Nerada, meiner Magielehrerin, sie hat mir noch so einiges zu erklären und auch mit meinem Vater muss ich reden. Was danach passiert, wird sich ergeben, wenn ich klarer sehe.“
Ayuma wartete, bis Korsion alles gepackt hatte und wieder aus der Höhle trat. „Leider können wir nicht einfach zurückfliegen, weil wir dann die Pferde hierlassen müssten. Wir werden wie gewohnt reiten.“
Und als hätte es Finea schon immer in ihrer Nähe gegeben, fragte sie an den Drachen gewandt: „Bleibst du über uns?“
Ayuma und Korsion banden die Taschen an die Sättel der Pferde, stiegen auf und wurden auf ihrem Weg von dem Drachen begleitet. Ayuma war froh, mit ihren Gedanken, die sich beinahe überschlugen, nicht alleine zu sein. Es kam ihr vor, als würde sie Korsion schon ihr ganzes Leben lang kennen und nicht erst seit zwei Tagen, denn er war immer nett und hilfsbereit. Er schien ein selbstbewusster und lebensfroher Mensch zu sein.
„Wer bin ich?“, fragte Ayuma zornig, als sie ins Haus stürmte und auf Nerada traf.
Die Frau schaute zu Boden, sie wusste nicht, wie sie alles erklären sollte.
Doch gerade als sie zu einer Antwort ansetzte, begann Izores zu sprechen: „Es ist jetzt die Zeit, um dir die Wahrheit zu erzählen.“ Izores schaute hinaus auf den Wald. Es war still im Raum. Niemand wagte, etwas zu sagen. „Alles begann damit, dass Cass ihre Arbeit verlor. Zuerst dachten wir, dass das Geld, das die Schmiede abwarf, ausreichen würde, aber dem war nicht so. Cass beschloss, zur Kristallburg zu gehen, um dort nach Arbeit zu fragen, und tatsächlich stellte man sie ein. Eines Abends klopfte Yuuko, der oberste General der Drachenkrieger, an unsere Tür. Ich öffnete sie, doch er wollte mit Cass reden. Er sagte, es sei dringend und sehr wichtig. Er trug ein Bündel im Arm, darin ein kleines Baby. Es war die Tochter der Königin Miyu. Er bat uns im Namen der Königin und des Königs, das Kind aufzunehmen, aber nie zu erwähnen, wessen Kind wir aufziehen. Wir stimmten zu. Der General erklärte uns jedoch nicht, warum die Königin das Mädchen nicht bei sich behalten konnte oder wollte.“
Ayuma starrte ihn an. „Aber ...“
„Ja, du bist die Tochter der Königin. Und du bist eine Elfe!“
Aufgewühlt wandte Ayuma den Blick ab und ging hinüber zum Fenster. Sie sah Finea, die auf dem Rasen döste. „Heißt das, ich bin die Prinzessin von Baril?“ Izores nickte. „Mein ganzes Leben war also eine Lüge.“
„Was? Nein!“
„Doch, alles war eine Lüge. Es fängt schon damit an, dass du nicht mein Vater bist, Cass nicht meine Mutter, ich bin nicht hier in Seron geboren. Und die wahrscheinlich größte Lüge ist, dass ich noch nicht einmal ein Mensch bin“, brach es aus Ayuma heraus.
„Wir lieben dich wie ein eigenes Kind. Wir haben dich aufgezogen, du bist unsere Tochter. Königin Miyu hat dich zu uns bringen lassen, um dich zu schützen, so viel haben wir aus General Yuuko rausbekommen und das kann man sich auch denken“, versuchte Cass, sie zu besänftigen.
Ayuma ballte die Hände zu Fäusten, so fest, dass sich ihre Fingernägel in ihre Haut bohrten. Sie konnte sich nur schwer zurückhalten. Wieso sollte sie nicht einfach Izores und Cass ins Gesicht brüllen, was sie von der ganzen Sache dachte? Aber dann wurde ihr bewusst, dass die zwei immer für sie gesorgt hatten. Sie hätten die Bitte der Königin auch ablehnen können, damals, als sie noch ein Baby war. Hätten sie Nein gesagt, hätte Ayuma dann eine so unbeschwerte Kindheit gehabt? Wollte sie wirklich alle verletzen, die ihr wichtig waren? Ayuma setzte sich wieder auf ihren Platz, die Wut war verflogen. „Wie soll es denn jetzt weitergehen?“, fragte sie und schaute erst Cass, dann Izores an.
„Du musst nach Daicha gehen und dich dort zu einer Kriegerin ausbilden lassen. Sie haben dort sogar eine Akademie für junge Kämpfer wie dich“, schlug Izores vor.
„Die Akademie hat einen guten Ruf. Bevor ich hierherkam, war ich dort als Heilerin tätig. Ich hab viele gesehen, die vom Schüler zum Krieger heranwuchsen. Alle, die dort ausgebildet wurden, sind hervorragende Kämpfer geworden und viele haben einen Drachen an ihrer Seite“, erinnerte sich Nerada.
„Dann ist dort der richtige Platz für mich.“ Nerada nickte. „Was ist mit dir?“, fragte Ayuma nun Korsion, der das Gespräch interessiert verfolgt hatte.
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft sagte er etwas. „Ich werde an deiner Seite bleiben, egal, wohin du gehst. Wenn ich dort auch noch meinen Umgang mit dem Schwert verbessern kann, dann haben wir alle etwas davon.“
Ayuma musste lächeln, obwohl ihr eigentlich gar nicht danach war. Sie fing an, Korsion zu mögen. Er konnte immer das Gute sehen und konnte sich spontan auf neue Situationen einstellen. Außerdem schaffte er es immer, sie aufzuheitern.
„Dann ist es also beschlossen. Wir gehen nach Daicha und ich versuche, euch beiden einen Platz in der Akademie zu verschaffen. Ich hab dort immer noch einen guten Ruf. Wann brechen wir auf?“
„Moment mal, Nerada. Lässt du Cass und mich einfach hier zurück?“, warf nun Izores ein.
An sie beide hatte niemand gedacht. Wo sollten sie hin? Sie könnten natürlich warten, bis Nerada zu diesem kleinen Haus zurückkam, aber wollte die Magierin das überhaupt?
„Das Beste wird sein, ihr beide kommt ebenfalls mit uns nach Daicha. Dort sucht ihr euch ein Haus und eröffnet eine neue Schmiede. Ein erfahrener Schmied mit deinen Fähigkeiten wird immer gebraucht“, schlug Ayuma vor, als sie erkannte, dass sie sich nicht von diesen Menschen, ihren Eltern, trennen wollte.
„Guter Vorschlag. Seron ist zerstört und eine Schmiede in Daicha ist ein guter Neuanfang“, erklärte Izores und lächelte Cass zu, die seine Hand drückte.
Nerada klatschte zufrieden in die Hände. „Gut! Dann würde ich sagen, zwei Tage sollten uns bis zum Aufbruch reichen.“
Die anderen stimmten ihr zu.
*
Schon als sie das Tor passiert hatten, wusste Ayuma, dass sie Seron mehr gemocht hatte als diese große, hektische Stadt Daicha. Es war eng und schmutzig, an jeder Ecke schrien die Händler oder wurde Streit, der in Schenken begonnen hatte, auf der Straße ausgetragen. Und es stank nach zu vielen ungewaschenen Menschen und Tieren auf zu wenig Raum.
Ayuma wollte gerne ihre richtige Mutter kennenlernen und war ein wenig enttäuscht, als sie erfuhren, dass sich Königin Miyu zurzeit auf Reisen befand.
Izores und Cass hatten sich nach einer neuen Schmiede umgesehen, während Ayuma, Korsion und Nerada sich auf den Weg zur Akademie machten.
„Werden wir auch auf den General treffen? Wie ist er so?“, plapperte Ayuma vor Aufregung, jemanden kennenzulernen, der sich für ihr Leben eingesetzt hatte.
„Er ist hart, aber fair. Du solltest ihn nicht unnötig reizen. Sag einfach nur etwas, wenn er dich fragt“, informierte sie Nerada. Nun standen sie vor der Tür zum Empfangssaal. „Bereit?“
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