„Wenn wir uns in Bayola trennen, werde ich dich dann jemals wiedersehen?“ Ayuma war Dorna ans Herz gewachsen.
Diese zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“
Beide schwiegen.
„Ich habe mich einmal gefragt, ob du eigentlich einen Dämon hast?“
Ein Lächeln erschien auf Dornas Gesicht. „Ja, habe ich. Einen lilafarbenen Drachen, sie heißt Orna.“
Sie redeten noch eine Weile weiter, bis das Fleisch fertig gegart war und sie es essen konnten. Es schmeckte recht gut, zwar war es kein Festmahl, aber wenigstens hatten sie etwas im Bauch. Später krochen sie in die schützende Höhle und versuchten einzuschlafen.
Doch da fiel Ayuma ihr Traum wieder ein, den sie gehabt hatte, als sie bewusstlos gewesen war. Sie setzte sich auf. „Dorna, bist du wach?“
„Jetzt schon“, knurrte ihre gedämpfte Stimme auf der anderen Seite der Höhle und Dornas Gesicht schaute unter einer Decke hervor.
„Kann ich dich etwas fragen?“
„Wenn wir davon absehen, dass es bestimmt drei Uhr morgens ist und du mich gerade von einem wunderschönen Traum abgehalten hast ... schieß los.“
Ayuma überlegte, wie sie anfangen sollte. „Wie viel weißt du über Götter?“
„Ich bin kein wirklicher Experte, was Götter angeht, aber ich kann dir einiges erzählen. Was willst du denn wissen?“ Dorna schaute Ayuma erwartungsvoll an.
„Als wir aus Seron fliehen mussten, hatte ich diese Verletzung durch den Wolfsbiss am Bein und bin deswegen in Ohnmacht gefallen. Ich hatte einen merkwürdigen Traum. Ich träumte von einer Göttin, ihr Name war Singura.“
„Singura. Von ihr habe ich lange nichts gehört. Sie ist die Göttin der Annuri und die Göttin des Mondes. Du erkennst das Volk der Annuri daran, dass sie schwarze oder weiße Haare haben. Allerdings leben die meisten ihrer Anhänger in Darilon.“
„Sind diese Annuri Menschen?“
Dorna schüttelte den Kopf. „Nein, sie sind Elfen, Dunkelelfen, um genau zu sein.“
„Aber was ist das Besondere an ihnen?“
„Ich sagte doch, ich bin keine Expertin. Mehr weiß ich nicht über Singura oder die Annuri.“ Ayuma legte sich wieder auf ihre Decke. „Ach, Ayuma ...“ Dorna war doch noch nicht fertig.
Diese drehte sich noch mal auf die Seite. „Was?“
„Weck mich nie wieder um drei Uhr morgens.“
„Nie mehr.“ Ayuma kicherte.
„Versprich es.“
„Versprochen!“
Sie machten es sich wieder einigermaßen bequem in ihren Decken und schliefen ein.
Am frühen Morgen aßen sie etwas von dem Brot, das Nerada ihnen eingepackt hatte. Die Pferde mussten versorgt und gesattelt und das Lager abgebaut werden. Dann ritten sie schweigend nebeneinander her, bis sie Bayola schon am Nachmittag erreichten.
Das kleine Dorf unterschied sich sehr von Seron. Hier gab es nur bescheidene, strohgedeckte Häuser, in denen hauptsächlich Bauern zu leben schienen. Offensichtlich gab es nur wenige Handwerker.
„Da wären wir.“
Dorna nickte bekräftigend. „Ich war noch nie hier. Wo wohnt denn Airos Tante?“
Ayuma zuckte hilflos mit den Schultern. „Wir müssen jemanden fragen.“ Sie schaute sich um und entdeckte einen kleinen Jungen, der ein paar Hühner hütete, und ging auf ihn zu. „Kannst du uns sagen, wo die Familie Seram wohnt?“
Der Junge bedeutete ihnen zu folgen und ging voraus. Er führte sie durch mehrere kleine Gassen Bayolas, bog unvermittelt ab, bis sie schließlich zu einem kleinen Hof am Rande des Dorfes gelangten.
„Da ist es“, zeigte ihnen das Kind.
„Danke“, rief Ayuma ihm noch nach, als er sich auf den Weg zurück zu seinen Hühnern machte.
Ayuma und Dorna banden die Pferde an einem Holzpfahl fest. Dann gingen sie zum Haupteingang und klopften an die Tür. Es dauerte nicht lange, bis eine schlanke Frau mit freundlich aussehenden Augen öffnete. „Ja?“
„Hallo, Frau Seram. Mein Name ist Ayuma Shino. Das ist Dorna Daiko. Es geht um Ihren Neffen Airo“, stellte Ayuma sich und Dorna vor.
„Was ist mit Airo, hat er etwas angestellt?“, fragte die Frau und runzelte die Stirn.
„Dürfen wir erst hereinkommen? Ich möchte Ihnen diese Nachricht ungerne hier auf der Türschwelle überbringen.“
Die Frau öffnete die Tür weiter, damit die Besucher eintreten konnten. Sie gelangten in einen großen Raum, der offensichtlich als Küche, Wohn- und Esszimmer gleichzeitig diente. An einem Tisch mitten im Raum saßen zwei Männer und ein kleines Mädchen. Einer von ihnen musste der Sohn der Familie sein, so erkannte Ayuma beim zweiten Hinsehen. Er war beinah so muskulös wie der andere Mann, doch sein Gesicht war deutlich jünger. Er sah nett aus, doch als er sie schelmisch angrinste, schaute sie verlegen zur Seite.
„Was ist?“ Der Ältere stand auf, als er die Ankömmlinge sah.
„Es geht um Airo“, fand Ayuma schnell zum Grund ihres Besuchs zurück.
„Setzt euch“, sagte der Mann, wies auf eine Bank.
Ayuma erzählte ihnen, was vorgefallen war. Von dem Moment an, als sie zum alten Schlachttunnel gegangen waren, als dann die Stadt angegriffen wurde, bis zu den Umständen von Airos Tod.
Frau Seram schluchzte leise und Tränen rannen über ihr Gesicht, der Mann starrte zu Boden.
„Ist er als Held gestorben?“
„Er hat zwei Menschen gerettet, bevor er starb. Sie sollten stolz auf ihn sein.“
Im Raum herrschte Schweigen.
Dann fasste sich Frau Seram und schluchzte: „Wisst ihr, er war der Sohn meiner Schwester. Ich habe ihn schon seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen. Danke, dass ihr euch die Mühe gemacht habt, herzukommen und uns die Nachricht zu überbringen.“
„Es war selbstverständlich.“
„Sicherlich seid ihr müde von der Reise. Ihr könnt für die Nacht hierbleiben“, bot Herr Seram an.
„Das ist sehr nett von Ihnen“, sagte Ayuma.
Frau Seram stand auf und wischte Tränen von ihrer Wange. „Das ist meine Tochter Zoey.“ Diese hob ängstlich die Hand zum Gruß in die Höhe. „Und das ist mein Adoptivsohn Korsion.“
Der junge Mann schaute sie immer noch an und nickte ihnen jetzt zu. Ayuma war überrascht. Wie war sein Name? Korsion? War er es, von dem Singura geredet hatte?
Er wandte sich wieder seinem Essen zu, wobei sie einen Blick in seine hellblauen Augen erhaschen konnte. Seine kurzen schwarzen Haare wogten bei dieser Bewegung.
„Kommt mit, ich zeige euch, wo ihr eure Sachen ablegen könnt“, lenkte Frau Seram ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. Ayuma und Dorna folgten ihr nach draußen in einen Heuschuppen.
„Legt euch einfach irgendwohin. Braucht ihr noch Decken? Ich hoffe, es ist nicht zu unbequem“, sagte die Frau.
„Wir haben die letzten Tage draußen verbracht, also ist das mehr als ausreichend“, sagte Ayuma freundlich.
„Das freut mich“, erklärte Frau Seram, drehte sich um, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Dorna, die immer schon gerne in Schuppen übernachtet hatte, war bereits eine steile Leiter hinaufgeklettert und spielte wie ein kleines Kind im Heu. Ayuma folgte ihr und setzte sich auf einen Ballen, wobei sie ihrer Freundin erzählte, dass sie mit Riku und Gorek, die ja Bauernkinder waren, oft in deren Scheune im Heu gespielt hatte.
„Warum habt ihr mich nicht mitgenommen?“, fragte Dorna.
„Wir hatten dich gefragt, du wolltest nicht“, antwortete Ayuma.
Eine Weile sah sie Dorna zu, wie diese im Heu herumkletterte. Es schien wirklich Spaß zu machen.
„Ob Riku und Gorek noch leben?“
„Sie wohnen außerhalb von Seron, es kann schon sein“, überlegte Dorna.
„Wollen wir jetzt nicht unser Lager aufbauen?“
Dorna kletterte von dem Heuhaufen herunter. „Wenn es denn sein muss.“
Die nächste halbe Stunde verbrachten sie damit, Heu für ihre Betten aufzuschichten oder sich gegenseitig damit zu bewerfen. Endlich waren sie fertig und erschöpft. Nun war es Zeit, sich schlafen zu legen.
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