Izores stöhnte. „Ich wusste, dass du früher oder später darauf kommen würdest. Jeder ist von der Magie fasziniert, aber nur wenige besitzen wirklich Fähigkeiten, die man trainieren kann. Nicht jedem ist es gegeben. Ich selbst konnte nie etwas mit der Magie anfangen. Aber du hast auch hier Fähigkeiten, also wenn du unbedingt willst ...“
„Kennst du jemanden, der mich unterrichten könnte?“
„Ja, sie ist eine gute Freundin von mir. Ihr Name ist Nerada. Sie beherrschte Magie schon als kleines Kind.“
Ayuma wunderte sich, dass sie nie von Nerada gehört hatte, doch Izores ging nicht weiter darauf ein. Er erklärte ihr den Weg zur Magierin: Ayuma musste Seron in nördlicher Richtung verlassen. Am Anfang des Waldes verlief der Weg nach Osten bis zum Fluss Nami. Von hier aus konnte man Neradas Haus schon sehen.
Ayuma packte ein paar Sachen. Erst am frühen Abend kehrte ihre Mutter heim. Sie saßen noch bis zur Dunkelheit zusammen und redeten über Ayumas Pläne. Cass nahm ihr das Versprechen ab, auf sich aufzupassen und ihre Eltern nicht zu vergessen. Schließlich verabschiedeten sie sich mit herzlichen Umarmungen und legten sich schlafen.
Am folgenden Morgen brach Ayuma auf. Sie schritt zügig durch die Stadttore und nach nicht einmal zwei Stunden kam sie an eine kleine Hütte. Hinter dieser floss ein Fluss und daneben erstreckte sich der Wald.
Ayuma klopfte an. Die Tür öffnete sich und eine Frau mit dunkelblonden Haaren und braunen Augen schaute interessiert heraus. „Du musst Ayuma Shino sein. Du bist sehr gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.“
Ayuma nickte verblüfft und ließ es geschehen, dass Nerada sie von unten bis oben musterte. Offenbar fanden beide sofort Gefallen aneinander.
„Tja, weißt du, die Zeit ...“
Ein Lächeln legte sich auf Ayumas Gesicht, ihr war es, als ob sie Nerada schon immer gekannt hatte. Diese hielt die Tür weiter auf, sodass Ayuma eintreten konnte. Im Haus war es sehr ordentlich, viel ordentlicher als in Ayumas Zuhause. In der Wohnstube standen überall Schränke, in denen aufgereiht Bücher, Schriftrollen, Tränke und leere Fläschchen zu finden waren. Die Mitte des Raumes nahm ein Tisch ein, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag. Nerada hatte wohl gerade gelesen. In der Wohnstube gab es noch drei weitere Türen, zwei übergroße und eine gewöhnliche, die alle geschlossen waren.
Nerada klappte das Buch zu und schaute Ayuma an. „Also, was führt dich zu mir?“
Ayuma erzählte ihre Geschichte, dass sie von Waffen fasziniert sei, viel mit den Dorfjungen geübt habe, unbedingt eine Kriegerin werden wolle. „... und als gute Kriegerin muss ich auch Magie erlernen und beherrschen.“
„Izores wird es nicht gefallen“, wandte Nerada ein.
Ayuma dachte an das Gespräch mit ihrem Vater und nickte seufzend. „Er hält mich nicht auf. Magische Kräfte können sehr nützlich sein.“
„Das ist wahr. Ich habe erfahren, dass du mit deinen Freunden im Sperrgebiet warst und dort auf ein dunkles Wesen gestoßen bist, das du mit deinem Schwert nicht vertreiben konntest. Hat diese Erfahrung dich beeinflusst?“, forschte Nerada.
„Ja, man konnte es nur mit Magie bändigen. Solche Kreaturen dürfen die geteilte Welt nicht beherrschen. Also ... wirst du mich unterrichten?“
„Ich habe schon einen Schüler. Der Unterricht kostet mich jetzt schon sehr viel Zeit. Ich kann dich nur aufnehmen, wenn du dein Ziel klar vor Augen hast. Wie steht es mit dir?“
„Ich verspreche, fleißig zu sein und dich nicht zu enttäuschen.“ Ayuma verbeugte sich, um damit ihr Versprechen zu bekräftigen.
„Ich mache dich später mit meinem ersten Schüler bekannt, sein Name ist Airo Seram.“
Ayuma sprang auf. „Airo? Ich kenne ihn. Wo ist er?“
„Er ist im Wald. Ich habe ihm aufgetragen, Blaumondlilien zu sammeln. Er müsste bald zurück sein“, erklärte Nerada mit gerunzelter Stirn und einer vagen Handbewegung.
„Aber die Blaumondlilie wächst nur unter Wasser!“
„Genau. Gut, dass du das weißt, Ayuma.“
In diesem Moment polterte Airo durchnässt in die Hütte. Ayuma musste ein Grinsen verstecken. Offenbar hatte Airo die Blaumondlilie gefunden. Er hielt einen triefenden Arm in die Höhe und wollte zum Sprechen ansetzen, brachte aber dann kein Wort heraus, als er das Mädchen sah.
„Begrüße Ayuma, meine neue Schülerin“, forderte Nerada ihn auf, um damit die Regeln der Höflichkeit einzuhalten, und an Ayuma gewandt sagte sie: „Es ist schon spät. Du kannst die leere Schlafkoje nutzen, die andere belegt Airo.“ Nerada deutete auf die zwei übergroßen Türen. Mit einem „Gute Nacht“ an Ayuma und Airo schritt sie durch die schmale Tür und zog sich in ihre Schlafkammer zurück.
Ayuma öffnete ihre Schlafstätte und war überrascht, wie gemütlich sie wirkte. Nachdem sie sich sattgesehen hatte, drehte sie sich zu Airo um. Dieser hatte sie wohl schon eine Weile betrachtet. Jetzt verlangte er zu wissen, welche Umstände sie hierhergebracht hatten. Ayuma erzählte auch ihm ihre Geschichte. Airo lag in seiner Koje, während er zuhörte, schaute er an die Decke.
„Wie lange bist du schon hier?“, lenkte Ayuma das Gespräch nun auf ihn.
„Schon fast drei Jahre“, erklärte Airo. „Und bevor du dich aufregst: Letztens im Wald habe ich dir davon erzählt, zwar nicht, wie lange, aber dass ich jemanden habe, der mich unterrichtet. Ich wollte nicht, dass es alle wissen, du weißt doch, wie Mornan reagiert hätte.“
Sie sprachen noch weiter über die Ausbildung in Magie, mit der Ayuma morgen beginnen würde. Doch Airo wollte nicht sagen, was sie am nächsten Tag erwartete. Denn würde Ayuma sich darauf vorbereiten, könne Nerada nicht erkennen, inwieweit sie die Magie bereits beherrschte. Eine Weile schwiegen sie beide. Schließlich wünschte Ayuma eine gute Nacht, verschwand in ihrer Koje und versuchte einzuschlafen.
Am nächsten Morgen fiel helles Licht durch die offene Tür der Koje herein und weckte das Mädchen. Es hörte eine Stimme, verstand aber nichts. Ayuma atmete tief ein, streckte sich und öffnete verschlafen die Augen.
„Gut, du bist endlich wach“, knurrte Airo und verschwand aus ihrem Blickfeld. Ayuma setzte sich auf, schlug die Bettdecke beiseite und kletterte aus der Koje.
Nerada deckte gerade den Tisch, um, wie sie meinte, zur Feier des Tages mal ein ordentliches Frühstück zu machen. Alle drei setzten sich. Die Speisen sahen lecker aus, obwohl Ayuma einiges nicht kannte.
„Hast du keinen Hunger?“, fragte Airo, der schon dabei war, seinen Teller vollzuschaufeln.
„Du solltest etwas essen, heute wird ein anstrengender Tag“, forderte Nerada Ayuma auf.
Diese griff immer noch schlaftrunken nach dem Brot und hätte dabei fast die Schale mit der Milch umgestoßen. Der Schreck ließ mit einem Mal alle Müdigkeit von ihr abfallen, ihre Hände hielten krampfhaft alles fest. Airo musste laut loslachen.
„Ach, ich hätte es fast vergessen. Zu deinem Geburtstag hab ich noch ein Geschenk für dich.“ Nerada verschwand in ihrer Kammer und kam kurz darauf mit einem Päckchen zurück.
„Du musst mir nichts schenken“, erwiderte Ayuma höflich.
„Schon klar, aber mach es trotzdem auf.“
Ayuma löste einen Knoten und wickelte das Papier ab. Zum Vorschein kam ein Handschuh aus einem weichen weißen Leder, den sie sich staunend über die rechte Hand streifte. „Oh, er passt wie angegossen und sieht wunderschön aus.“ Sie bewegte die Finger der Reihe nach vor und zurück und bewunderte die Wellen, die im Stoff entstanden.
„Er soll nicht nur gut aussehen“, erklärte Nerada. „Er leitet Magieströme. Wenn du einen Zauber benutzt, kannst du ihn durch deinen rechten Arm leiten und ihn dadurch verstärken. Du kannst die Magie sogar weiter in deine Waffe strömen lassen und mit deinem Schwert zum Beispiel einen Feuerstrahl abfeuern.“
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