1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 Wir gingen noch ungefähr zehn Minuten weiter, bis wir fanden, wonach wir gesucht hatten. Zwischen zwei Bäumen am linken Rand des Hauptwanderwegs war ein Seil gespannt. Daran hing mittig ein Schild mit der Aufschrift »BETRETEN VERBOTEN« auf Englisch. Dahinter verschwand ein schmaler, mäandernder Pfad im Dickicht, der offenbar fast unbenutzt war. Die dürren Jungbäume links und rechts neigten sich nach innen, sodass sich ihre Zweige in der Höhe verschränkt hatten wie Knochenfinger, was den Eindruck eines Tunnels erweckte, den man nicht unbedingt durchschreiten wollte.
Die Nervosität, die ich schon zuvor empfunden hatte, stellte sich jetzt wieder ein, dieses Mal allerdings wesentlich penetranter, und ich fragte mich zusehends, ob unsere Idee, hier draußen zu übernachten, wirklich klug war.
Mel dachte augenscheinlich das Gleiche, denn sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust, als würde sie plötzlich frieren und meinte: »Sag jetzt bitte nicht, wir gehen da durch.«
»Aber sicher doch«, bestätigte Ben.
»Warum campen wir denn nicht gleich hier?«
»Weil hier gar kein Abenteuer in Aussicht steht.«
»Ich hatte bis jetzt schon genug Abenteuer.«
»Hier würde man uns doch sofort entdecken.«
»Wer denn? Wir sind bisher nur an drei Wanderern vorbeigekommen.«
»Wir nehmen diesen Weg«, meinte Ben nachdrücklich, »suchen uns ein gediegenes Plätzchen und schlagen dann unser Lager auf.«
»Der Alte hat damit gedroht, uns anzuzeigen«, gab Neil zu bedenken. »Was, wenn er genau das tut und die örtliche Polizei gleich hier aufkreuzt? Ich bin wirklich nicht scharf darauf, eingebuchtet zu werden.«
»Eingebuchtet? Wofür denn?«, fragte John Scott. »Weil wir den Hauptweg verlassen haben?«
»Das wäre immerhin unbefugter Zutritt. Die Drei haben garantiert unsere Campingausrüstung gesehen. Da können sie doch zwei und zwei zusammenzählen.«
»Das hier ist öffentliches Gelände!«
»Auf diesem Schild steht ganz ausdrücklich, dass das Betreten verboten ist.«
»Aber nichts von strafrechtlicher Verfolgung.«
»Was heißt denn das hier?«, warf Mel ein. Sie zeigte auf ein kleineres Schild neben dem Englischen, das mit Kanji beschriftet war.
»Nicht in den Wald gehen«, übersetzte Tomo. »Sie verirren sich.«
»Das ist alles?«, fragte ich.
»Seht ihr?«, sagte John Scott.
Ich schaute mich nach weiteren Warnhinweisen um … und entdeckte eine Überwachungskamera zehn Fuß weit entfernt oben an einer schwarzen Metallstange, die teilweise hinter Bäumen verborgen war.
»Was zur Hölle ist denn das?« Ich zeigte darauf.
Alle schauten hinüber. Der eine oder andere raunte verwundert.
»Wer die wohl aufgehängt hat?«, dachte Neil laut. »Die Polizei?«
»Wahrscheinlich«, entgegnete Ben. »Das ist aber keine große Sache.«
»Was meinst du damit?«, fragte Mel. »Sie könnten uns schließlich in diesem Augenblick beobachten.«
»Selbst wenn«, sagte Tomo, »wird sie sich nicht um uns kümmern.«
Das konnte ich nicht nachvollziehen. »Wieso denn nicht?«
»Weil sie sich Sorgen um die Leute macht, die Selbstmord begehen wollen. Ihr hingegen als Ausländer? Da können sie sich denken, dass ihr euch nicht umbringen wollt. Ihr seid ihnen egal.«
Ben kam wieder auf den Punkt, indem er sagte: »Sind also alle einverstanden? Gehen wir dort entlang?«
Ich sah noch einmal Mel an. Sie zuckte resignierend mit den Achseln, was auch meine Gleichgültigkeit widerspiegelte. Ben grinste daraufhin breit und stieg über die Absperrung, um danach Nina darüber zu helfen. Dabei rutschte ihre kurze Hose an den Beinen hoch. John Scott folgte ihr und schwang seine Beine nacheinander hinüber, ohne die Knie zu beugen, gefolgt von Tomo und schließlich Neil, der prompt mit einem Fuß hängen blieb und fast umfiel. Ich hob das Seil einfach hoch, woraufhin sich Mel bückte und darunter hindurchging.
So verließen wir den Hauptpfad und schlugen den Weg ins Ungewisse ein.
Unterwegs sprachen wir nicht miteinander. Die Zeit des Schwatzens und der Heiterkeit war offenbar vorbei. Was uns spontan eingefallen war, um uns die Wartezeit zu verkürzen, hatte letzten Endes eine bedenkliche Wendung genommen. Obwohl wir nicht unbedingt Landfriedensbruch begingen, waren wir definitiv in einer Gegend unterwegs, wo wir nichts verloren hatten. Aokigahara wurde traditionell von Menschen aufgesucht, die mit ihrem Leben abschließen wollten. Der Wald blieb deshalb den Toten vorbehalten, nicht den Lebenden. Ich schätze, dies wurde uns allen langsam bewusst, als wir durch den Baumtunnel gingen, der klaustrophobisch und bedrohlich zugleich war.
Nichtsdestotrotz deutete niemand von uns an, umkehren zu wollen. Vermutlich trieb uns morbide Neugier weiter. Wissen zu wollen, was sich hinter der nächsten Ecke befindet, egal, womit man rechnen muss, liegt irgendwie im Wesen des Menschen begründet.
Mein Herz schlug viel schneller als normal, und meine Sinneswahrnehmung war so scharf, als hätte ich einen großen Energy Drink zu mir genommen. Ich behielt den Urwald zu beiden Seiten im Auge, obwohl ich gar nicht so genau wusste, was ich überhaupt zu sehen erwartete. Einen pendelnden Strick mit Schlinge vielleicht? Eine Leiche? Ein Gespenst mit fahlem Gesicht, das zwischen den Bäumen schwebte und langsam auf uns zukam? Abgesehen davon, dass es bei jedem Schritt immerzu knackte und ich aufgeregt und laut atmete, war gar nichts zu hören. Ich staunte abermals über die befremdliche Stille in diesem Wald und fragte deshalb: »Hey Tomo, warum gibt es hier keine Tiere?«
Er schaute über die Schulter zu mir zurück. »Was meinst du damit?«
»Na ja, ich habe noch keine hier gesehen, weder Vögel noch sonst welche.«
»Das ist ein verdammter Geisterwald, Mann. Vögel haben große Angst, fliegen deshalb in anderen Wald.«
»Und wieso ist es außerdem windstill?«, fügte Ben hinzu. »Das finde ich ebenfalls komisch.«
»Ich gehe mal davon aus, dass es an den Bäumen liegt«, argwöhnte Neil. »Sie sind so dicht zusammengewachsen, dass kein Luftzug hindurch kommen kann.«
»Wenn dieser Weg verboten ist, Tomo«, sagte nun Mel. »Warum gibt es ihn dann überhaupt? Wer hat ihn angelegt?«
»Die Polizei. Er wird benutzt, um Tote zu suchen.«
»Wie viele findet man denn so im Jahr?«
»Hundert bis zweihundert.«
Sie blieb wie angewurzelt stehen. »Was?«
Wir anderen hielten auch inne.
Tomo ergänzte gelassen: »Mal mehr, mal weniger.«
»Ich hätte nie gedacht, dass es so viele sind.« Mel war blass geworden. »Ich dachte … ich weiß nicht … es seien nur eine Handvoll jedes Jahr.«
Ergo lag ich mit meinen geschätzten ein bis zwei Dutzend pro Jahr deutlich näher an der wirklichen Zahl.
Unter den Erste-Welt-Ländern hat Japan die höchste Suizidrate von allen«, gab Neil sachlich kund.
»Werden wir also tatsächlich auf eine Leiche stoßen?«, fragte Mel.
»Der Wald ist groß«, antwortete ich unverbindlich.
»Und falls ja«, erwiderte Ben, »wird vermutlich nur noch ein Skelett davon übrig sein.«
»Na immerhin«, entgegnete sie.
Ich sah sie an. »Willst du jetzt zurückgehen?«
»Du?« Sie erwiderte meinen Blick.
»Sei kein Angsthase, Kumpel«, meinte John. »Es war so abgemacht, und jetzt sind wir hier.«
»Willst du zurückgehen?«, wiederholte ich.
»Hasenfuuuß«, rief er grinsend.
»Halt dich raus«, schoss ich zurück.
»Ich wollte doch bloß …«
»Das geht dich überhaupt nichts an.«
»Schon gut, Jungs«, lenkte Mel ein. »Ich komm schon klar.«
John Scott schnaubte, als habe er sich bei einem Kräftemessen durchgesetzt, und übernahm jetzt gemeinsam mit Ben die Führung. Während wir unseren Weg fortsetzten, schaute ich noch mehrere Male nach vorne und spielte verschiedene Gesprächsverläufe im Kopf durch. Diese liefen aber entweder darauf hinaus, dass ich ihm sagte, dass ihn eigentlich niemand dabeihaben wollte, oder sie spitzten sich zu einem Faustkampf zu, den naheliegenderweise natürlich ich gewann.
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