1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 Ich schaute mich wieder um, sah aber sonst nichts, was auf die Anwesenheit von anderen Menschen hindeutete.
»Glaubst du, der gehört jemandem … du weißt schon?«, fragte Mel. »Jemandem, der sich umgebracht hat?«
»Wem sollte er sonst gehören?«, erwiderte John Scott. Ich überlegte, ob ich mir seinen Nachnamen von nun an wegdenken sollte, blieb aber letztlich dabei. Mich amüsierte es nach wie vor, dass er sich eine untrennbare Verbindung von Vor- und Nachnamen gefallen ließ, wie Tom Cruise oder andere Stars. »Jedem Wanderer würde doch garantiert auffallen, wenn er einen Schuh verliert.«
»Aber genauso jemandem, der Selbstmord begehen will«, wandte ich ein. »Wir reden hier schließlich von einem Menschen, nicht von Zombies.«
»Und wo sind die Schnürsenkel?«, fragte Mel.
»Vielleicht hat er sie ja dazu benutzt, um sich zu erhängen«, legte Neil nahe.
Das bezweifelte ich doch stark. »Mit Schnürsenkeln?«
»Wisst ihr, was ich denke?«, warf Tomo ein. »Dass ein Tier den Träger gefressen hat.«
Ben schüttelte den Kopf. »Dann würden wir doch auch Knochen und Kleiderfetzen finden.«
»Vielleicht hat es ihn ja verschleppt, und der Schuh ist eben dabei abgefallen.«
»Das gefällt mir gar nicht«, gab Mel zu.
Ich erkundigte mich: »Gibt es denn hier in der Gegend Bären, Tomo?«
»Ja, Mann«, entgegnete er. »Voll viele.«
»Ich mein's ernst.«
»Ja, gibt es«, bestätigte Neil. »Ich habe Berichte von Wanderern gelesen, die beim Besteigen des Fujis welche gesehen haben. Bären greifen aber nur sehr selten Menschen an, außer man stellt sich zwischen sie und ihre Jungen.«
»Ich behaupte ja nicht, dass ein Bär ihn oder sie lebendig gefressen hat«, relativierte Tomo. »Ich meinte tot.«
»Spielt es denn eine Rolle, was genau passiert ist?« John Scott winkte ungeduldig ab. »Wir stellen hier doch nur Mutmaßungen an, und das ist nichts weiter als Zeitverschwendung. Ich will endlich einen Toten sehen.« Er machte sich wieder auf den Weg, um tiefer in den Wald zu gelangen.
Nach kurzem Zögern folgten wir ihm.
Es wurde auf einmal merklich dunkler, und zwar erschreckend schnell. Kurz vorher hatte man zwischen den verzweigten Baumkronen noch stellenweise den deckend grauen Himmel gesehen, doch jetzt ließ sich durch die zunehmend dichter zusammengestauchten Wipfel wenig, bis gar nichts mehr davon ausmachen, sodass man meinen könnte, es dämmere bereits, obwohl es in Wirklichkeit noch mitten am Tag war. Normalerweise genoss ich die Übergangsphase vom späten Nachmittag zum frühen Abend mit ihrer friedlich ruhigen Atmosphäre stets, aber nicht im Aokigahara. Hier wirkten die Bäume seltsam Unheil verkündend und verdorrt. Ihr Grün leuchtete nicht mehr, so als sauge ihnen irgendetwas das Leben aus. Die Schatten wurden länger und schwärzer und gingen langsam ineinander über. Allmählich spielte mir sogar meine Fantasie Streiche und uferte so weit aus, dass ich mir qualvoll verzogene Gesichter an runzeligen Baumstümpfen oder einen verkohlten Schädel auf einem Haufen Vulkansteine einbildete. Darüber hinaus beschlich mich das unbehagliche Gefühl, dass wir beobachtet würden. Mehrere Male nahm ich am Rande meines Gesichtskreises Bewegungen wahr.
Trotzdem fehlten weiterhin jegliche Spuren von Tieren oder Wind. Es gab nur die Bäume und uns in dieser … Gruft.
Ich war offenbar nicht der Einzige, der sich vom Wald ins Bockshorn jagen ließ. Wir verhielten uns allesamt wie Tiere, die ständig irgendwo Fallen witterten und nervös hochschauten oder uns auf die beengenden Umgebungsverhältnisse konzentrierten, als ob uns überall etwas Gefährliches auflauern würde.
Plötzlich knackte es rechts von uns im Gestrüpp. Ben und Nina, die zu zweit vor mir hergingen, sprangen sofort vor Schreck fast einen Fuß hoch. Tomo ging ruckartig in die Hocke und hielt sich die Hände an die Wangen, wie die Figur auf dem Munch Gemälde Der Schrei. Mel hingegen packte meinen Unterarm so fest, dass es wehtat. Dann brüllte plötzlich John Scott hinter uns vor Lachen. Ich erkannte, was er getan hatte, noch bevor er einen weiteren Stein in den Wald warf.
»Mensch, John!«, rief Mel wutentbrannt. »Das war nicht lustig!«
Aber er lachte immer weiter. Neil, der neben ihm stand und wahrscheinlich konspirativ eingeweiht worden war, kurz bevor John Scott den ersten Stein aufgehoben hatte, sah verlegen erheitert aus.
»Du Fuck-Arsch!«, schimpfte Tomo, obwohl er selbst dämlich grinsen musste. »Ich hab fast in Hose geschissen mir.«
Daraufhin lachte John Scott nur noch lauter. Ben und Nina begannen nun ebenfalls zu kichern. Letzten Endes amüsierten wir uns alle köstlich, was auch bitter nötig war, denn dabei ließ endlich der Druck nach, der sich offensichtlich bei uns allen aufgestaut hatte.
Unsere Erleichterung war jedoch nur vorübergehender Art, und nachdem wir zu Ende gelacht hatten, setzen wir uns wieder in Bewegung. Dabei kehrte einmal mehr unweigerlich Stille ein und diese beunruhigte mich genauso wie zuvor.
Ich warf Mel, die neben mir auf ihrer Unterlippe kaute und den Kopf nach vorne geneigt hatte, um zu sehen, wohin sie trat, einen intensiven Blick zu. Ich glaubte fast, ihre körperliche Anspannung spüren zu können. Als sie zu mir herüberschaute, lächelte sie zaghaft – einstudiert wie bei den Krankenschwestern damals, als ich bis zu Garys Tod bei ihm am Bett geblieben war. Ein Zuversicht spenden wollendes Lächeln.
Kurzerhand bekam ich Gewissensbisse, weil ich ihr diese Campingtour aufgezwungen hatte. Auf so etwas wie dies war Mel nun mal nicht geeicht. Sie sträubte sich oft schon davor, Horrorfilme zu sehen, weil sie sich zu sehr fürchtete, und ließ sich nur sehr selten, wenn überhaupt mal, zu gewagten oder gar illegalen Handlungen hinreißen.
Ich nahm ihre Hand in meine und fragte sie: »Erinnert dich das Ganze hier immer noch an einen Zauberwald?«
»Ein bisschen«, antwortete sie. »Mir kommt es aber eher so vor, als seien wir ins Reich der bösen Hexe eingedrungen.«
»Ich weiß, was du damit sagen willst.«
»Worüber hast du gerade nachgedacht? Du warst ja während der letzten fünf Minuten ganz still.«
»Über unsere Reise nach Spanien«, entgegnete ich wahrheitsgemäß. Ich war im Kopf nämlich die dümmsten Dinge durchgegangen, die ich in meinem bisherigen Leben gedreht oder zu drehen versucht hatte. Unter den ersten drei rangierte mein Beschluss im Sommer zuvor, den Caminito del Rey in Spanien zu bewältigen, einen damals noch absolut verfallenen Klettersteg, der nur drei Fuß breit war und dreihundertdreißig Meter über einem Fluss an einer steilen Felswand entlangführte. Dabei leide ich unter Höhenangst. Ging aber irrsinnigerweise davon aus, diese Tour zu bewerkstelligen, trage dazu bei, sie zu überwinden. Als ich allerdings an eine Stelle gelangte, wo der Beton zerbröckelt war und eine weite Lücke klaffte, die lediglich von dünnen Stahlstreben überbrückt worden war, drehte ich mich hastig um und kehrte schnurstracks zu Mel zurück, die so umsichtig gewesen war, es gar nicht erst zu probieren.
»Blauer Himmel, warmes Wetter«, sagte sie jetzt. »Der Urlaub war doch so schön. Hättest du ihn bloß nicht erwähnt.«
»Wärst du jetzt lieber wieder dort?«
»Du meinst als in Japan? Oder lieber dort als in einem verwunschenen Wald?«
Ich hatte eigentlich Letzteres gemeint, behauptete aber nach ihrer Schlussfolgerung trotzdem: »Lieber als in Japan. Wir müssen ja nicht in die USA zurückkehren, aber stattdessen könnten wir uns doch zum Beispiel Stellen in Spanien suchen. Dort werden auch Englischlehrer gebraucht.«
»Das ist nicht so einfach. Die ziehen Briten vor, die bereits einen europäischen Pass haben.«
»Wie wär's dann mit Thailand oder Tschechien? Sogar die Türkei wäre denkbar. Auch dort herrscht ständig Bedarf an Englischlehrern. Das ist der große Vorteil am Lehramt: Man kann überallhin ausscheren und kommt dabei viel herum.«
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