Eine Leiche aber, ob Mord oder Selbstmord, mitten in seinem Zuständigkeitsbereich, wäre dennoch sensationell! Die erste Leiche in seinen achtundzwanzig Lebensjahren und den sechs Jahren bei der Polizei – mit Ausnahme der zahlreichen Schnapsleichen! Zwar war er erst vorgestern zu einer echten Leiche gerufen worden, dann hatte sich aber herausgestellt, dass es sich um eine tote Katze gehandelt hatte! Manche Leute machten da echt keinen Unterschied.
Bis jetzt hatte er es bloß mit quakenden Fröschen in Bioteichen zu tun gehabt, die die Nachbarn nervten, einem Einbruch oder den üblichen Wirtshausschlägereien. Raub war bereits die Ausnahme. Er sah das alles ziemlich entspannt, bis auf ein einziges Mal. Da hatte es im Ort eine Vergewaltigung gegeben. Ein junges Mädchen war unter Drogen gesetzt und von einer Gang missbraucht worden. Vergewaltigung war das einzige Delikt, das Paul Junghans richtig ausrasten ließ. Sexualstraftätern gegenüber konnte er knallhart sein. Die Bande hatte folglich auch nicht viel zu lachen gehabt und würde sich an den jungen Inspektor noch sehr lange erinnern.
Aber Mord war eine ganz neue Kategorie!
Paul Junghans stieg in seinen noch fast neuen Passat Touran, schlug den hochgestellten Kragen seiner schwarzen Lederjacke zurück und kontrollierte im Rückspiegel noch schnell seine Erscheinung. Dunkelblonder Kurzhaarschnitt, lachende bernsteinfarbene Augen – heute ein wenig rot unterlaufen von der Party letzte Nacht – ein schlankes markantes Gesicht mit einer natürlichen Bräune, einen Viertagebart und schön geschwungene volle Lippen. Seine Wirkung auf Frauen war verheerend – meist für die Frauen, die sich schon nach wenigen Minuten Hals über Kopf in ihn verknallten. Aber Paul Junghans war wählerisch.
Er fuhr sich einmal kurz und selbstverliebt über die modische Frisur. Bislang war es noch keiner Frau gelungen, ihn dauerhaft an sich zu binden, denn seine Ambitionen bezüglich Frauen und Beruf blieben nicht auf seinen Bezirk Mödling beschränkt – sein erklärtes Ziel war, in Wien Karriere zu machen!
Halbwegs zufrieden mit seinem Erscheinungsbild stieg er auf das Gaspedal. Bis zur Karriere in Wien würde er sich allerdings noch ein wenig mehr anstrengen müssen, daher käme eine echte Leiche gerade sehr gelegen.
Mit dem Gas geben wurde es vorerst nichts, denn er geriet mitten in einen Stau. Aus dem Handschuhfach nahm er das Blaulicht mit der Magnethalterung und knallte es auf das Wagendach. Dann raste er, sofern man bei den Wagenkolonnen von Rasen sprechen konnte, nach Keltenberg zurück. Punkt sechzehn Uhr dreißig stellte er den Wagen vor dem Haus in der Kirchgasse Nummer 32 ab.
Ein paar Anwohner standen bereits in einigem Respektabstand um die Polizeiwagen herum und die Männer der Spurensicherung durchsuchten drinnen schon das Haus. Im Haus selbst roch es nach Altmännerschweiß und Tristesse. Über all dem schwebte der Geruch von ungewaschener Bettwäsche, Speiseresten und etwas Faulig-Süßlichem, das besonders hervorstach, das er aber nicht richtig zuzuordnen vermochte. Das Haus war das reinste Biotop.
Der Gerichtsmediziner, Rudolf Wehrschütz, war bereits vor ihm eingetroffen. Er stand gebückt im Vorzimmer und kramte gerade in seinem Koffer herum.
Da Paul wusste, dass Wehrschütz aus dem gut vierzig Kilometer entfernten Wien anreisen musste, und das mitten im Berufsverkehr, fragte er grinsend: »Sind Sie geflogen?«
Rudolf Wehrschütz hob kurz den Kopf und antwortete mit einem knappen: »Ja.«
»Haben Sie vorher ein Red Bull getrunken und es sind Ihnen auf einmal Flügel gewachsen? Hehe.«
Wehrschütz richtete sich auf und hielt sich dabei den Rücken. »Nein, aber ein Heli stand bereit. Die A21 war voll wegen des Staus.«
»Weiß ich, stand schließlich mittendrin. Das muss aber etwas sehr Wichtiges gewesen sein, von wegen Heli.«
»Ein Mord in Perchtoldsdorf.«
»Echt?«
»Der dritte in acht Wochen.«
Paul wurde richtiggehend neidisch. Überall war was los, nur in seinem Revier herrschte die reinste Harmonie. Bis auf heute. Immerhin.
»Wollen Sie die Leiche nun sehen?«, kam Rudolf Wehrschütz zur Sache.
»Klar! Deswegen bin ich doch hier!«
Als Paul dann vor dem Toten in seinem Blut stand und den zertrümmerten Schädel sah, spürte er plötzlich, wie die Magensäure seine Speiseröhre hochstieg, und schaffte es gerade noch bis vor die Tür. Peinlicherweise stand ausgerechnet dort die versammelte Burkhardt-Familie mitsamt der Frau Klampfl und wartete auf ein Ergebnis der Untersuchung.
»Ihre erste Leiche?«, fragte Frau Klampfl mitleidig.
Paul wischte sich mit einem Papiertaschentuch über den Mund. »Nein, der Punsch von gestern!«
»Ach so! Na, das kann schon mal vorkommen! Wissen Sie denn, wer es getan hat?«
Sie schaute in keiner Weise so betroffen drein, wie man es in Gegenwart eines Toten erwarten durfte. Auch die Burkhardts hatten vorgestern, als sie ihn zu ihrer toten Katze riefen, weit niedergeschmetterter gewirkt, als in Gegenwart des toten Herrn Wallner. Er würde sie unbedingt näher befragen müssen.
»Ich bin Polizeiinspektor und kein Hellseher«, antwortete er patzig auf Frau Klampfls Frage, und prompt zog die Alte ein Gesicht. Er war noch keine zehn Minuten da und – Hokuspokus Simsalabim – sollte er den Mörder auch schon aus dem Hut zaubern! Und das, wo noch gar nicht erwiesen war, dass es sich um Mord handelte oder nicht doch um einen Unfall. Was dachten sich die Leute eigentlich bei solch dümmlichen Fragen?
Zurück im Schlafzimmer stellte ihm Rudolf Wehrschütz die gleiche dämliche Frage wie vorhin Frau Klampfl: »Ihre erste Leiche?«, und schaute genauso mitleidig drein.
»Magenverstimmung«, entgegnete Paul kurz angebunden und näherte sich dem Toten mit gerunzelten Augenbrauen und professioneller Amtsmiene. Er bückte sich und wollte gerade eine Hand nach dem Körper ausstrecken, als ihn die scharfe Stimme von Rudolf Wehrschütz mitten in der Bewegung stoppte.
»Hände weg von meiner Leiche!«
Im ersten Moment direkt erschrocken, riss Paul die Hand zurück. Okay, er hatte keine Handschuhe übergezogen, aber in der Eile hatte er es schlicht und einfach vergessen. Musste ihn dieser Wehrschütz deswegen vor den anderen Kollegen so vorführen? Hatten Gerichtsmediziner einen Besitzanspruch auf Leichen? Gehörten die ihnen persönlich?
Der Wehrschütz und die Klampfl hatten ihm jetzt echt die ganze Freude verdorben. Da freute man sich, dass man endlich zu einer richtigen Leiche gerufen wurde und schon wollten sie sie ihm madig machen!
Er hörte Rudolf Wehrschütz sagen: »Der Tod dürfte heute Morgen zwischen vier und halb sechs Uhr eingetreten sein. Ein Unfall kann ausgeschlossen werden.«
Na, wenigstens etwas!
»Also doch Mord!«, brachte Paul es theatralisch auf den Punkt. »Und das in unserem friedlichen Keltenberg!« Er senkte den Blick, damit der andere in seinen Augen nicht die klammheimliche Freude sehen konnte. »Können Sie schon etwas über die Tatwaffe sagen?«
»Es waren mehrere Schläge mit einem stumpfen Gegenstand.«
»Stumpfer Gegenstand, nicht gerade aufschlussreich. Das kann alles Mögliche sein.«
»Was wollen Sie? Name und Adresse des Mörders?«
Unerfahren darin, dass man Gerichtsmediziner generell nicht infrage stellte, schluckte Paul einen weiteren Kommentar hinunter.
»Gibt es irgendwelche Einbruchsspuren?«, fragte er.
»Die Kollegen sagen nein.«
»Dann muss er seinen Mörder gekannt haben. Wer öffnet schon einem Fremden mitten in der Nacht die Tür?«
»Ich nicht«, sagte Wehrschütz.
»Ich auch nicht, und ich bin die Polizei!« Paul grinste versöhnlich. »Was meinen Sie, war das Opfer gleich tot?«
»Nein, es dauerte ein Weilchen. Erster Schlag – das Opfer wankt. Zweiter Schlag – das Opfer geht zu Boden. Dritter, vierter, fünfter Schlag – das Opfer ist tot. Es wurde zu Tode geprügelt.«
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