Carla stellte den Besuch vor: »Tobias, das ist Frau Gertrud, sie wird mir künftig im Haushalt helfen.«
Die kleine dickliche Gestalt auf dem Sofa schien in ihrem Wohnzimmer so deplatziert, dass Tobias Mühe hatte, nicht blöd zu grinsen. Er hielt Gertrud über den Tisch die Hand hin und sagte artig: »Ich bin der Tobias.«
»Jetzt hab ich fast die ganze Familie kennengelernt«, stellte Gertrud fest. »Es fehlt nur noch der Vater.«
»Entschuldigt mich«, sagte Tobias, »aber ich bin hundemüde. Ich geh auf mein Zimmer.« Während er sich die Wendeltreppe hinaufschleppte, wollte er wissen: »Gibt’s bald was zu essen?«
»Ich bin heute nicht zum Kochen gekommen, aber ich könnte uns etwas aus der Tiefkühltruhe aufwärmen«, erwiderte Carla.
»Ruf mich, wenn das Essen auf dem Tisch steht.«
Gertrud musste schon wieder die Stirn runzeln. Zwei fast erwachsene Kinder, die sich anscheinend von ihrer Mutter von vorn und hinten bedienen ließen. Vielleicht konnte sie später einmal, wenn sie sich besser kannten, diesbezüglich korrigierend eingreifen.
Als Martin Burkhardt weit nach zwanzig Uhr nach Hause kam, war Carla bereits leicht nervös. So spät kam ihr Mann fast nie heim, obwohl, wenn sie recht überlegte, es in letzter Zeit doch auffällig oft vorgekommen war.
Gertrud erhob sich neugierig und verließ ihren Platz auf der Couch.
»Martin«, stellte Carla vor, »das ist Frau Gertrud Klampfl. Sie wohnt in unserer Straße und ich konnte sie heute dafür gewinnen, mir im Haushalt zu helfen.«
Unauffällig ließ Martin Burkhardt seine Augen über die kleine nichtssagende Frau wandern. »Wie erfreulich für dich, Carla! Willkommen in unserem Haus, Frau Klampfl!« Er lächelte charmant.
Martin Burkhardt war groß gewachsen mit brünetten, leicht gewellten Haaren, klugen braunen Augen, einem schmalen schneidigen Mund und einer scharfen Nase. In dem hellbraunen Jackett aus englischem Tweed sah er aus, wie sich Gertrud einen richtigen Professor vorstellte. Ein ausgesprochen attraktiver Mensch, dachte sie bewundernd, wie überhaupt die ganze Familie – mit Ausnahme der Tochter. Als sie Herrn Burkhardt dann etwas scheu die Hand gab, reichte ihre Nasenspitze gerade mal an seine Brust heran.
Stefanie, die die letzten zwanzig Minuten damit verbracht hatte, ihren Freunden auf Facebook zu posten, welch grausamen Tod ihr Blacky erleiden musste, polterte jetzt die Wendeltreppe herunter, getrieben von dem Wunsch, ihrem Vater die furchtbare Nachricht persönlich zur Kenntnis zu bringen. Mit Grabesstimme verkündete sie: »Dad, Black Sabbath ist tot!«
Martin Burkhardt, etwas angeschlagen von einem arbeitsreichen Tag und mit dem Aktenkoffer noch in der Hand, stand mitten im Wohnzimmer. »Wie? Wurde er überfahren?«
»Nein! Er wurde meuchlings ermordet!« Stefanie warf sich weinend in seine Arme.
Martin Burkhardt streichelte seiner Tochter über den Kopf. »Das tut mir so schrecklich leid, Steffi. Weiß man, wer das getan haben könnte?«
»Keine Ahnung! Mami will die Polizei ja nicht einschalten, wen kümmert schon eine Katze!«
Nun schlug Gertruds Stunde.
Sie holte kräftig Luft, blies ihren Körper zu voller Breite auf und verkündete: »Möglicherweise kann ich zur Aufklärung beitragen!«
Alle Familienmitglieder wandten ihr überrascht die Köpfe zu.
Erfreut, einmal im Mittelpunkt zu stehen, und genau deswegen plötzlich ein wenig verlegen, erzählte Gertrud von ihrer Begegnung mit Herrn Wallner.
»Kennen Sie den alten Wallner von der Nummer 32? Den hab ich in sein Haus verschwinden sehen, kurz bevor ich Blacky gefunden hab.«
»Herr Wallner?«, wiederholte Carla. »Den kennen wir natürlich. Zwar nur flüchtig, aber wir sehen ihn ab und zu auf der Straße und grüßen.«
»Ich glaub, der hat was mit Blackys Tod zu tun!«, prophezeite Gertrud düster.
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Carla skeptisch. Sie kannte den alten Wallner zwar als eigenbrötlerischen Nachbarn, aber als bösartigen Tierquäler? Auch hatten sie nie Streit mit ihm gehabt.
»Wenn er es war, bring ich ihn um!«, schrie Stefanie unbeherrscht.
»Er ist eine ganze Zeit lang vor Ihrem Haus gestanden«, berichtete Gertrud. »Ich konnte ihn zwar hinter der Straßenbiegung nicht direkt sehen, aber bevor er zurück in sein Haus ging, hab ich die arme Mieze schreien gehört. Und außer mir und ihm war kein Mensch auf der Straße. Ich sag Ihnen, der Mann hat Ihre Katze auf dem Gewissen!«
Noch während Gertrud sprach, war Stefanie aus dem Zimmer gestürmt. Sie hörten die Haustür zuschlagen und Carla konnte ihr nur noch hilflos hinterhersehen.
»Hoffentlich macht sie jetzt keine Dummheiten!«, seufzte sie ängstlich.
Gertrud stand neben Herrn Burkhardt und verschränkte zufrieden die Arme.
Herr Burkhardt bemerkte: »Noch haben wir keine Selbstjustiz!« Er wandte sich der Treppe zu.
»Wohin willst du, Martin?«
»Ich habe ein paar dringende Unterlagen zu bearbeiten. Übrigens, gibt es heute noch etwas zu essen?«
Carla, die wusste, wenn ihr Mann einmal in seinem Arbeitszimmer verschwand, war er blind und taub für alles andere, was im Haus geschah, wollte sich in Gertruds Gegenwart nicht mit ihm streiten.
»Warte doch wenigstens, bis Steffi wiederkommt«, bat sie.
Herr Burkhardt stellte den Aktenkoffer ab. »Steffi übertreibt«, sagte er. »Natürlich ist Black Sabbaths Tod für sie persönlich eine Tragödie, aber sie kann doch jetzt nicht herumlaufen und den Nächstbesten beschuldigen.«
»Ich finde halt«, warf Gertrud ein, »dass man der Sache wenigstens auf den Grund gehen sollte. Wenn es eins dieser verbotenen Fangeisen war, können wir die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Es könnten sich auch andere Tiere darin verfangen, im schlimmsten Fall sogar kleine Kinder. Finden Sie das wirklich so harmlos, Herr Burkhardt?«
Martin Burkhardts Blick wanderte zu der kleinen fremden Frau, die ihn mit vorwurfsvollen Rosinenaugen taxierte.
»Natürlich nicht«, erwiderte er und fühlte sich von der neuen Hilfskraft schon jetzt bevormundet. »Ich bin heute nur etwas überarbeitet und habe Hunger.«
»Ich dachte, du hättest unterwegs eine Kleinigkeit gegessen«, sprach ihn seine Frau mit einem leichten Unterton in der Stimme an. »Ich meine nur – weil es heute so spät geworden ist.«
»Ich kam nicht zum Essen.«
»Ich kann für uns alle eine Pizza machen«, bot Carla an.
Gertrud war dem Gespräch der beiden mit Neugierde gefolgt. Herr Burkhardt sah zwar etwas müde aus, aber ihn schien weder das Schicksal der Katze und schon gar nicht Herr Wallner besonders zu interessieren. Solange sein Umfeld reibungslos funktionierte, dachte sie, war er zufrieden. Sobald aber ein Ereignis eintrat, das diese Harmonie störte, geriet sein Alltag ins Wanken. Typisch Mann! Da konnte auch die zivilisierte Fassade nicht darüber hinwegtäuschen. Und dann auch noch Fertigpizza! Wenn Frau Carla ihr den Kühlschrank, oder besser noch die ganze Küche überlassen würde, könnte sie in Null-Komma-nix ein richtiges Abendessen zaubern.
Stefanie trampelte ins Zimmer herein. »Dieses Stinktier macht die Tür nicht auf!«, schrie sie. »Ich weiß aber, dass er zu Hause ist!«
»Darf ich mich einmischen?«, wollte Gertrud wissen. »Ich persönlich finde halt, dass man die Polizei verständigen sollte. Wenn es ein Fangeisen war und es dem alten Wallner gehört, muss er dafür zur Rechenschaft gezogen werden, denn die sind illegal.«
»Da gebe ich Gertrud recht«, sagte Stefanie unter Tränen. »Mein Blacky ist mitten auf der Straße verreckt, bei diesem Gewitter … ich möchte mir das gar nicht vorstellen!«
Gertrud fuhr dem Mädchen einmal scheu und unbeholfen über die Wange, darauf achtend, sich nicht in ihrem silbernen Nasenring zu verfangen. Trotz ihrer aufsässigen Art hatte sie es nicht verdient, schon in so jungen Jahren Bekanntschaft mit dem Tod machen zu müssen.
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