Mir wurde es allmählich zu viel. Wahrscheinlich hatte Gott einen Joint geraucht und stellte heute Nacht Berlin auf den Kopf. Ich war nicht bekifft, nur müde und trat den Rückweg zur Residenz an. Im Isozimmer würde ich mich für ein paar Stündchen aufs Ohr legen. Aber die Trabantkarawanen wurde ich nicht mehr los. Sie überholten mich. Sie überfluteten den Kurfürstendamm. Ich halluzinierte. Die vielen Frühdienste und das ewige Hin und Her zwischen der Residenz und den Nächten in verrauchten, dröhnenden Schwulensaunen zehrten an meinen Nerven. Kein Bus kam. Ich ging zu Fuß. Berlin war außer Rand und Band, und ich wollte ins Isozimmer. Jemand rief mir zu, die Mauer sei gefallen. Für Zonis gab es Bananen, Schokolade und Umarmungen. Wie praktisch, dass ich sächselte. Mein Vorrat an Bananen, Schokolade und Umarmungen war für Wochen gesichert.
In der Residenz trudelte am nächsten Morgen die Äbtissin gegen neun Uhr ein. Meine anderen Kolleginnen bekam ich erst kurz vor dem Mittagessen zu sehen. An diesem Tag dachte ich zum ersten Mal, dass ich gern hier arbeite. In der Residenz war ich sicher.
Am nächsten Tag fuhr ich wieder zum Hermannplatz. Ich nahm einen zweiten Anlauf. Berlin war noch immer im Rausch. In Martins Page 49Kommune jubelte niemand. Das war wohltuend nach den Heulkrämpfen, dem endlosen Gewinke und der Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung auf den Straßen. Begrüßt wurde ich mit der Bemerkung, dass es bei Penny heute keine Salzstangen mehr zu kaufen gab und nicht einmal Katzenfutter. Die Zonis würden alles wegkaufen. Die Katzen können doch nun wirklich nichts dafür! Fünf Linksautonome, drei Frauen und zwei Männer, starrten mich an. Martin, mein James-Dean-Nachtpfleger, verwandelte sich in einen RAF-Sympathisanten, als wir über Politik sprachen. Bald sollten wir nur noch über Politik sprechen. Es waren die Jahre vor Bad Kleinen und dem Ende der RAF. Noch waren die in der DDR untergetauchten Terroristen nicht enttarnt, noch agierte die dritte RAF-Generation im Untergrund. Der Mauerfall war für die RAF und die Katzenfutterkommune eine Katastrophe. Angeblich hatten Ulrike Meinhoff und Gudrun Ensslin hier Tee getrunken. Das genügte, um die Wohnung zur Gedenkstätte zu erklären. Zur dritten RAF-Generation hielt die Kommune angeblich konspirativen Kontakt, so konspirativ, dass der Kontakt mir nach der Beschwerde über das fehlende Katzenfutter bei Penny sogleich aufs Brot geschmiert wurde. Ich passte nicht hierher. Aber das freie Zimmer hatte einen Balkon. Es war hell, nur die Wände müsste ich weißen. Der Blick aus dem Fenster lockte. Sogar ein Stück Himmel war zu sehen. Marion deutete aus dem Fenster und Page 50erklärte mir, dass sich auf der anderen Straßenseite ein Puff befinde. Der Puff sei aber in Wirklichkeit ein Nest des Bundesnachrichtendienstes, um die Kommune zu observieren. Die Kommunardinnen und Kommunarden standen Nacht für Nacht am Fenster und beobachteten durch ein Opernglas, wer den BND-Puff betrat.
Ich sah aus dem Fenster. Es war später Abend, und tatsächlich klingelten dort immer nur einzelne Herren. Dann wurde zuerst ein Fensterchen geöffnet, anschließend die Tür. Die Kommune hatte den Dandy-Club, eine Schwulenbar, im Visier. Ich lud sie ein, auf ein Bier mitzukommen, und erntete enttäuschte Gesichter. Ich hatte das schöne Spiel verdorben.
In den nächsten Jahren spielte ich Radikalinski, auf jeder Demonstration, an der ich teilzunehmen hatte, wenn die Kommune das beschloss. Kreuzberg wurde am ersten Mai zum Mekka für Linksautonome, und ich vermummte mich so großartig, dass ich unerkannt im Lesbenblock mitmarschieren konnte. Sobald ich die Presse sah, drängelte ich mich nach vorn. Blitzten Kameras, lief ich zu Hochform auf. Auf der Titelseite der taz erschien ein Foto: Ich, ganz in Schwarz, vermummt mit Arabertuch und bitterbösem Blick. Ich halte ein Transparent, auf dem DEUTSCHLAND HALT’S MAUL steht. Eine Demonstration gegen die Wiedervereinigung. DEUTSCHLAND HALT’S MAUL war ein dämlicher Satz. Aber ich hatte schon einen Page 51Futon und einen Schreibtisch für mein Zimmer gekauft. »Feuer und Flamme für jeden Staat! Feuer und Flamme fürs Patriarchat!«, schrie ich und hob die Faust. Die Miete für das Zimmer war sagenhaft günstig.
Nur manchmal ertrug ich meine Heuchelei nicht mehr. Dann legte ich Amiga-Langspielplatten auf, die ich aus der DDR mitgebracht hatte. Durch die Wohnung schallten die Lieder von Veronika Fischer und Jürgen Walter. Das war meine Rache an der Kommune.
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Zweimal im Schuljahr hatten wir vier Wochen lang Schwimmunterricht im Buna-Bad. Im Sommer im Freibecken, über das im Winter eine riesige Kautschukplane gestülpt wurde. Wir nannten sie die Buna-Blase. In der Buna-Blase war die Luft ein bisschen dünn, es hallte und dröhnte sonderbar. Das Echo aus Harpos Horoscope ließ sich dort mühelos nachahmen. Aber nicht einmal Harpos Echo konnte mich seit der sechsten Klasse dazu bringen, das Buna-Bad zu betreten. Damals beschloss ich, nie wieder dorthin zu gehen. Ich würde mich nicht noch einmal dem geifernden Befehlston der Sportlehrer aussetzen. Als Fräulein Blei den Rest der Klasse aufforderte, am Beckenrand Platz zu nehmen und mir dabei zuzusehen, wie ich mich abmühte, einen Kopfsprung hinzubekommen und stattdessen mit dem nächsten Bauchklatscher im verchlorten Wasser landete, war das Maß voll. Nie wieder. Bis zur zwölften Klasse hielt ich durch.
Meiner Mutter eine Erkrankung vorzuspielen, war keine große Kunst. Morgens im Bett rieb ich mir die Stirn heiß und schüttelte das Fieberthermometer hoch. Manchmal schlug die Quecksilbersäule zu weit aus, doch Gott sei Dank schöpfte meine Mutter keinen Verdacht, wenn das Thermometer 41,5 Grad Celsius anzeigte. Sie sagte, ich sähe aus wie das Leiden Christi. Ich wusste nicht, wie das Leiden Christi aussah, durfte aber im Bett bleiben.
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Stand dienstags Schwimmen auf dem Stundenplan, bekam ich am Dienstagmorgen hohes Fieber, das erst nach einer Woche ganz langsam abklang. Am Mittwoch ging ich wieder in die Schule, um am folgenden Dienstag einen heftigen Rückfall zu erleiden, der mir wieder genau eine gesamte Woche Zeit im Bett und auf der Couch im Wohnzimmer schenkte. Mit dieser Masche tilgte ich alle vier Schwimmunterrichtstermine im Schulhalbjahr. Ging meine Mutter zur Arbeit in die Konsumdrogerie, schlief ich bis zehn. Dann begann das Vormittagsprogramm von ARD und ZDF. Am liebsten sah ich Schwarzwaldklinik , Ich heirate eine Familie , Traumschiff und ZDF-Hitparade . Ich sah alles, was ich mir sonst verbot, lag auf dem Sofa, wickelte mich in Muttis Mollydecke und machte Urlaub. Meine wissenschaftliche Weltanschauung war mir schnuppe. Ich erholte mich von der Russischolympiade, Herrn Pfeiler und den Kirchlis. Ich konnte nicht mehr. Ich war todmüde. Das DDR-Fernsehen interessierte mich nur, wenn die Schlagersendung Bong! lief.
Nach dem Mittagsschlaf las ich Die Bettelprinzess von Hedwig Courths-Mahler. Ich hatte es auf dem Bücherregal meiner Oma Martha entdeckt. Wahrscheinlich hatte es seit Jahren dort gestanden. Der Roman war für mich eine Offenbarung. Natürlich wusste ich, dass Courths-Mahler Schund- und Schmutzliteratur schrieb und eine kleinbürgerliche Kitschautorin war, weil sie die Page 54Klassenunterschiede übertünchte. In der DDR waren ihre Bücher verboten. Meine Oma Martha las ausschließlich Kitschromane und brachte sie von ihren alljährlichen Westreisen mit. Sie nähte die Schmöker in ihr Mieder, ehe sie den Interzonenzug nach Halle an der Saale betrat. Zu Hause in Freienfelde betrieb Oma Martha eine illegale Leihbücherei, von der ihre Söhne nichts wissen durften, ausschließlich mit verbotenen Schmökern aus dem Westen. Als ich Die Bettelprinzess lesen wollte, war ihr das zunächst nicht recht. Oma Martha sagte, solche Bücher würden nur für alte Frauen geschrieben. Auf ihrem Bücherregal stand auch Die Mutter von Maxim Gorki. Das sei etwas für mich, befand Oma Martha. Schließlich würde ich später sowieso einer von den Hohen werden. Oma Martha wollte sich keinen Ärger mit meinem Vater einhandeln. Andererseits war ich ihr einziger Enkel. Ich ließ Die Bettelprinzess mitgehen und bediente mich aus den Stapeln mit den Erika-Luxus-Romanen. Gott sei Dank führte Oma Martha ihre Leihbücherei schlampig, sie stapelte ihre Schwarten in Schuhkartons. Allerdings hatte sie die Schwarten nummeriert. Fehlten mal ein paar Nummern, fragte Oma Martha mich nie.
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